Als im November 1918 der Erste Weltkrieg zu Ende ging, wurde er bald darauf auch der „Große Krieg“ genannt. Und er war groß in vielfacher Hinsicht: an menschlichem Leid und kalkulierter Brutalität, an militärtechnologischer Innovationskraft und gezielter Zerstörung, an politischen Ambitionen und strategischen Fehleinschätzungen. Der US-Diplomat George Kennan (1904 – 2005) nannte ihn treffend die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Ihm folgte 1939 ein noch destruktiverer Krieg. Beide Weltkriege haben die Welt verändert, ihre Auswirkungen sind bis heute spürbar. Sie haben sich in das kollektive Gedächtnis der beteiligten Nationen eingebrannt, nicht zuletzt, weil es globalisierte und totale Kriege waren.
Welche Lernprozesse dadurch auch immer in Gang gesetzt wurden – sie haben nicht dazu geführt, die soziale Institution Krieg abzuschaffen. Ob dies überhaupt möglich sein wird, ist umstritten. Während die einen die These vertreten, langfristig befinde sich der Krieg als Institution des zwischenmenschlichen Verkehrs im Niedergang, gehen andere davon aus, dass Krieg als Mittel der Politik immer eine Rolle spielen wird.
Asymmetrisch und hybrid
Unstrittig ist zweierlei: Kriege sind gegenwärtig real, und sie verändern ihre Erscheinungsformen ständig. Vor diesem Hintergrund und angesichts des Kriegsgeschehens etwa in Libyen, Syrien, Mali, im Jemen, in Afghanistan, in der Ukraine oder anderswo stellt sich die Frage: Was ist überhaupt Krieg? Wie sieht Krieg im 21. Jahrhundert aus? Welche Schlussfolgerungen für die Kriegsverhinderung lassen sich daraus ziehen?
Auf die erste Frage gibt es keine allgemeingültige Antwort. Es existieren unterschiedliche Konzepte und Deutungsrahmen von dem, was Krieg ist. Aus völkerrechtlicher Sicht ist der Begriff eigentlich überholt. Die beiden stattdessen gebrauchten juristischen Bezeichnungen lauten „internationaler bewaffneter Konflikt“ und „nicht internationaler bewaffneter Konflikt“. In der UN-Charta kommt das Wort Krieg nur in der Präambel vor, die als Aufgabe vorgibt, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat [...]“. Demnach ist bereits die Androhung von Gewalt in den internationalen Beziehungen verboten. Militärische Gewalt darf von Staaten nur angewendet werden, um sich gegen einen Angriff zu wehren oder wenn der UN-Sicherheitsrat das Mandat dazu erteilt. Intervenierende Staaten vermeiden daher heutzutage den Begriff Krieg. Sie umschreiben ihn meist euphemistisch als Militäroperation, Friedensmission oder humanitäre Intervention.
Auch haben sich Praxis und Formen der Kriegführung im 21. Jahrhundert stark gewandelt. Es ist die Rede von asymmetrischer, postmoderner oder hybrider Kriegführung. Zur Zeit der klassischen Territorialstaaten wurde der zwischenstaatliche Krieg erklärt, zwischen Armeen ausgefochten und mit einem Friedensschluss beendet. Diese Ära ist zwar nicht vorbei, wird aber zunehmend überlagert von transnationalen Dynamiken, neuen Praktiken und der größeren Bedeutung nicht staatlicher Akteure. Krieg und Kriegführung sind heute komplexer, die Formen schwerer unterscheidbar, der Verlauf ist volatiler, die Ausrichtung gesellschaftszentrierter und dank neuer Technologien informationsintensiver. Kriege sind zudem vernetzter, transnationaler und „glokaler“, das heißt, die globale und lokale Ebene sind enger miteinander verwoben. Sie spielen sich meist auf einer – zumindest aus Sicht der Interventen – niedrigen Intensitätsebene statt, können aber lange dauern, im Einsatzland viel Leid und Zerstörung verursachen.
Doch sind sie erfolgreich? Das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) konstatiert, dass Gewaltkonflikte durch Interventionen häufig tödlicher werden, länger dauern und schwieriger durch eine Verhandlungslösung beizulegen sind. Dieser Befund weckt erhebliche Zweifel am friedenspolitischen Sinn von Militärinterventionen und den sie stützenden Rechtfertigungsgründen. Ob diese Zweifel bis in die höchsten Regierungsstellen vordringen, bleibt abzuwarten. Die seit einigen Jahren erkennbare Interventionsmüdigkeit bezieht sich zunächst einmal nur auf komplexe, personalintensive und teure Interventionen. An ihre Stelle sind „abgespeckte“ Formen der Kriegführung getreten, die sich auf lokale Stellvertreter, Spezialkräfte und Schläge aus sicherer Distanz stützen. Sie finden öfter in einer Grauzone statt, die indirektes und verdecktes Vorgehen ermöglicht.
Naiv und unhistorisch
Darum sprechen manche Experten davon, dass Krieg und Frieden nicht mehr eindeutig unterscheidbar seien und die Politik sich darauf einzustellen habe. Träfe das zu, dann müssten wir uns in einem permanenten Konflikt- oder Kriegszustand wähnen. Die Art des militärischen Eingreifens ändert sich derzeit zwar, doch bleibt, wie die gegenwärtige Aufrüstungsspirale und eine sich verschärfende Mächtekonkurrenz zeigen, die Option zu klassischer, konventioneller Kriegführung ebenso bestehen wie die des Einsatzes von Kernwaffen. Jeder Art von Kriegführung wohnt eine Tendenz zur Eskalation inne. Umso mehr sollte alles daran gesetzt werden, Krieg zu vermeiden.
So naiv und unhistorisch es ist, von einer Welt auf dem Weg zur universalen Demokratie und zum ewigen Frieden auszugehen, so pseudorealistisch und geschichtsvergessen ist es, die Welt als permanenten Krieg zu imaginieren. Denn: Solange Krieg als Mittel der Politik angesehen wird, muss er auch irgendwann beendet und in einen Friedenszustand überführt werden. Welche Form dieser Frieden annimmt und wie nachhaltig er ist, bleibt Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Der 100. Jahrestag des Kriegsendes von 1918 erinnert uns daran, dass der Frieden ein kostbares und zerbrechliches Gut ist, das jeden Tag aufs Neue bewahrt werden muss. Innerhalb und zwischen den Gesellschaften. Gustav Heinemanns Aussage gilt: Der Frieden ist der Ernstfall!
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