Zum Zeitpunkt von Franz Kafkas Geburt 1883 war Prag als Hauptstadt des Königreichs Böhmen die drittgrößte Stadt des Habsburgerreichs, etwas provinziell, etwas anachronistisch, aber doch auf dem Weg zu einer modernen Großstadt. Im Zeitraum von 1850 bis 1880 hatte sich die Einwohnerzahl, rechnet man die Vorstädte mit, auf 315.000 nahezu verdoppelt. Es war eine Folge des schnellen Wachsens von Industriebetrieben und Produktion, tschechischsprachige Arbeitskräfte drängten vom Land in die Stadt, die seit dem Mittelalter mehrheitlich Deutsch sprechenden Stadtbewohner wurden schnell zu einer statistischen Minderheit. In dieser Atmosphäre des Um- und Aufbruchs wuchs der junge Kafka auf. Sein Vater war aus Südböhmen nach Prag gekommen, hatte hier in der Altstadt ein Galanteriewarengeschäft eröffnet.
Prag begann, über die umliegenden Hügel hinauszuwachsen. Die Karlsbrücke war über 800 Jahre lang die einzige feste Verbindung über die Moldau gewesen, bis 1840 eine zweite Brücke entstand. Jetzt folgten weitere. Das Aufkommen moderner Verkehrsmittel machte sich schnell im Stadtbild bemerkbar: Am 20. August 1845 lief im Staatsbahnhof, dem heutigen Masarykbahnhof (Masarykovo nádraží), der erste Zug ein. Das Bahnhofsgebäude befand sich damals noch im Grünen, außerhalb der Stadtgrenzen. Es wirkte wie ein magnetisches Zentrum, und in wenigen Jahren wuchs die Stadt zum Bahnhof hin. Von 1875 an bis 1905 verkehrte über die Karlsbrücke eine Pferdebahn, danach, bis 1908, sogar eine elektrische Straßenbahn, bei welcher der Strom aus ästhetischen Gründen aus einer Schiene kam – man wollte keine Oberleitung über die zwölf gotischen Bögen installieren. Eine reine Fußgängerbrücke ist die Karlsbrücke erst seit 1965.
Sayonara!
Die neuen Verkehrsmittel und die Geschwindigkeit, mit der der Verkehr zunahm, machten organische Veränderungen im städtebaulichen Charakter notwendig: Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man, Verkehrsadern zu ziehen, es entstanden Boulevards und Flaniermeilen, Parkanlagen wie der Baumgarten (Stromovka) und der Chotek-Park (Chotkovy sady) – Kafkas Lieblingspark. Man orientierte sich an Paris und an Berlin. Außerhalb des Zentrums zeigte sich Prag längst als industriell geprägte Großstadt. Deutlich wurde dies bei der Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumsausstellung im Jahr 1908, die von den Dimensionen her einer Weltausstellung entsprach. Kafka besuchte diese riesige Zurschaustellung industriellen und kulturellen Fortschritts mehrmals, von moderner Technik ebenso fasziniert wie von japanischen Pavillons.
Angesichts des rasanten Wandels schwankte die Einstellung der Prager Bürger zwischen positiver Aufbruchstimmung und beharrender Nostalgie, die Stereotype wie „das goldene Prag“, „die alte Moldaustadt“ entstehen ließ. Anders als viele Zeitgenossen kannte Kafka als leitender Beamter einer Sozialversicherungsanstalt, zu dessen Aufgaben es gehörte, Industrie-Unternehmen zu besuchen und nach der Gefahr von Arbeitsunfällen zu klassifizieren, auch das industrielle Prag, etwa die Ringhoffer-Werke in Prag-Smíchov, die Eisen- und Straßenbahnen sowie Produktionsanlagen aller Art herstellten, und die auf hochwertigen Stahl spezialisierte Poldi-Hütte in Kladno. Städtebauliche Veränderungen, die ihm bei seinen Gängen durch die Stadt auffielen, protokollierte er nüchtern und interessiert – und zu sehen gab es viel: Mit den Assanierungsarbeiten des ehemaligen Gettos, des Stadtviertels, in dem Kafka aufwuchs, wurde Anfang der 1890er Jahre begonnen, sie zogen sich über mehr als zwei Jahrzehnte hin. Straßenzüge wurden bis zum Moldau-Ufer gezogen, Kanalisation und Wasserleitungen gelegt, das Straßenniveau angehoben. Es entstanden großzügige Straßenläufe mit hohen, repräsentativen Mietshäusern, die Wohnraum für das rasch zu Wohlstand kommende Prager Bürgertum boten. In diesem Bereich der Prager Altstadt hat sich nahezu Kafkas gesamtes Leben abgespielt, und die Enge dieses mit jahrhundertealter Geschichte befrachteten Lebensraums mag dazu beigetragen haben, dass bei ihm schon früh der Wunsch entstand, Prag zu verlassen. Allerdings scheiterten seine Bemühungen, als Student nach München zu gehen, und er studierte Jura an der Karls-Universität.
Für einen Studenten bot Prag auch damals alles, was traditionell mit dieser Lebensphase in Verbindung gebracht wird, und Kafka berichtet später nicht ohne Stolz von seiner „Bummelzeit“, in der er viele Nächte in Weinstuben versessen habe, und fügt hinzu: „Nach den Namen zu schließen, waren es wunderbare Örtlichkeiten: Trokadero, Eldorado und in dieser Art.“ Vor allem mit seinem Freund Max Brod stürzte er sich ins Nachtleben, in die Varietés und Chantants, besuchte die Prager Theater, das Deutsche Landestheater ebenso wie das Tschechische Nationaltheater oder das Lucerna, und gab sich fasziniert dem neuen Medium, dem Kino, hin.
Kafkas Prag ist eine europäische Metropole, die Künstler aller Bereiche anzieht. Ausstellungen von Bildern Edvard Munchs, Pablo Picassos und Georges Braques begeistern die Kunstszene und lösen den tschechischen Kubismus aus. An den beiden Opernhäusern gastieren Stars wie Nellie Melba, Enrico Caruso und Leo Slezak; Gustav Mahler, Otto Klemperer und Alexander Zemlinsky wirken hier als Kapellmeister. Theaterstars wie Sarah Bernhardt und Eleonora Duse treten auf, die Schauspieler Josef Kainz und Alexander Moissi sind zeitweilig engagiert, zu den Maifestspielen kommen regelmäßig die großen Wiener und Berliner Bühnen, darunter Max Reinhardt mit seinen Inszenierungen. Kafka sieht das Petersburger Zarenballett und Konstantin Stanislawskis Moskauer Künstlertheater, er besucht Rezitationsabende französischer Künstler. Seinem besonderen Interesse für das Kino kommt es entgegen, dass Prag für internationale Verleiher Erstaufführungsort im deutschsprachigen Raum ist, vermutlich wegen der vergleichsweise großen Zahl an Kinos bei einem überschaubaren Anteil von etwa 38.000 deutschsprachigen Einwohnern (1910). Hier ließ sich der Erfolg von Werbekampagnen in Tageszeitungen schnell ermitteln.
Ein Louvre voller Literaten
Auch im Hochschulbereich nahm Prag im beginnenden 20. Jahrhundert eine herausragende Position ein. Zu den an der Karls-Universität (ab 1882 in eine deutsche und eine tschechische Universität aufgeteilt) tätigen Wissenschaftlern zählten Albert Einstein (dem Kafka vermutlich begegnete) und Ernst Mach, Max Wertheimer und Alfred Weber (der Kafka promovierte). Ihre Forschungen zur Relativität von Zeit und Raum, zur Wahrnehmungsphysiologie und anderen Theorien stellten sie außerhalb der Hochschule in intellektuellen Zirkeln vor, in denen auch Kafka verkehrte.
Sein als Schriftsteller bereits arrivierter Freund Max Brod nahm den noch unbekannten Autor Franz Kafka mit zu den Literatentreffs in Prager Kaffeehäusern wie dem heute noch existierenden Café Louvre oder dem noch berühmteren Café Arco. Hier trafen sich vor allem die Protagonisten der jüngeren Generation deutschsprachiger Autoren, neben Brod etwa Franz Werfel und Egon Erwin Kisch. Sie verfügten über enge Kontakte zum literarischen Berlin und grenzten sich – anders als die Vorgängergeneration – nicht mehr von ihren tschechischen Kollegen ab, sondern bemühten sich, sie einer deutschen Leserschaft nahezubringen.
Es sind Kontakte, die sich in der Ersten Tschechoslowakischen Republik intensivierten und schließlich einer der Gründe dafür waren, dass für viele, die nach 1933 Deutschland verlassen mussten, darunter Thomas und Heinrich Mann, Prag erste Station ihres Exils wurde, bis es auch dort nicht mehr sicher war. Franz Kafka blieben diese Erfahrungen erspart. Am Ende seines Lebens konnte er zwar seinen Traum, Prag zu verlassen und in Berlin zu leben, noch verwirklichen, aber seine bereits stark angegriffene Gesundheit war dem extrem kalten Inflationswinter 1923/24 nicht mehr gewachsen. Nach nur sechs Monaten musste er seinen Sehnsuchtsort wieder verlassen und nach Prag zurückkehren. Sein Leben endete zehn Wochen später in einem niederösterreichischen Sanatorium.
Auf die gemeinsame Geschichte deutscher und tschechischer Böhmen, deren schwieriges Zusammenleben mit dem Zweiten Weltkrieg endete, blicken indes viele der aktuellen Bücher tschechischer Autorinnen und Autoren zurück. Es lohnt sich, sie zu lesen!
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