Der Wiedereintritt der Natur in die Literatur

Bachmannpreis Das Los hat dazu geführt, dass am letzten Tag erste und zweite Natur zurück in die Literatur finden. Ob das nur der Natur oder auch der Literatur bekommt?

Der dritte Tag des Bewerbs ist soeben ans Ende gelangt. Nun formen sich Bündnisse auf Zeit darüber, wer am Sonntag welchen Preis bekommt.

Eckhart Nickel, eingeladen von Michael Wiederstein, liest zu Beginn Hysteria, einen Text, der wie Luis Bunuels Szene eines Schnitts durch ein lebendes Auge auf mich wirkt.

Nickel löst das schockierende Skandalon in epischer Zeitlupe auf, was zur Folge hat, dass unter dem Blick des beunruhigten Protagonisten Bergheim der Zustand der Welt insgesamt, repräsentiert durch eine gut ausgeleuchtete Sequenz, sich in einen Schockanlass verwandelt, der auf Dauer gestellt sein könnte und kein Entrinnen erlaubt. Das hypertrophe Bewusstsein versteht es, den Bildausschnitt dieser Sequenz glaubhaft als Teil des Ganzen zu vermitteln.

Meisterhaft inszeniert Nickel die Vorzeichen einer notwendig wachsenden Unruhe, schöpft ihr Material aus in beiläufig notiert wirkenden Details. Was Natur und Zivilisation voneinander unterschieden haben mag, morpht unter dem Einfluss fortschrittlichster Barbarei wieder fatal zusammen.

Die Zivilisation, so ein mögliches Fazit, bringt ihre nächsten Brüche beiläufig in heute reflektiert wirkender Unschuld zustande. Kein Defibrillator in Sicht, der diesen Schock und das durch ihn auslösbare Kammerflimmern wieder unter Kontrolle brächte. Die Beunruhigung, die von diesem Text ausgeht, erinnert an Texte Elias Canettis, als sei er ein bestürzter Autor des 21. Jahrhunderts.

Die Jury reagiert darauf mit gemischten Gefühlen. Hildegard Keller fragt sich, was tatsächlich passiert. So verwandelt sich Rezeption in Verdrängung. Ihr synästhetisches Hören ist präziser als der Versuch kritischer Distanz. Winkels sieht ein hyperrealistisches Verfahren am Werk, konzediert dem Autor, dass der wahre Realismus ein extreme Fremdheit produzierendes Verfahren sei. In dem Text schießen viele Horizonte zusammen, was der Story gut tue.

Gmünder maskiert seinen Respekt mit einem Kinderspiel: ich seh etwas, was du nicht siehst und das ist UNGEHEUERLICH. Warum findet er den Text überfrachtet? Nickel operiere mit kleinstem Besteck! Ist das ein Vorwurf?

Kegel sieht den treffsicheren Versuch, den Vorbewusstheiten unserer Gegenwart auf den Grund zu gehen. Die Frage, in welchem Jahr wir uns befinden, verlängert den Text symptomatisch, denn sie bezeugt, dass Nickel mit seiner Zerstörungs- und Verstörungsphantasie ganze Arbeit geleistet hat.

Feßmann äußert Dekadenzverdacht. Dass die Welt nach neuen Beschreibungen suche, bleibt leere Forderung, weil sie genau das in dem Text nicht erkennt. Sie verschließt die Augen vor dem Offensichtlichen.

Kastberger schätzt die epischen Makroskopen, die für das Bild einer Rosenhecke achtzig Seiten brauchen. Die Sanftheit des erzählerischen Blicks sei Maske seiner Erbarmungslosigkeit. Der Autor lacht sich dazu ins Fäustchen. Fühlt er sich erwischt?

Am Rande der Diskussion gibt es den Versuch, den unrettbaren Text von Albig wieder in die Diskussion zu bringen. Der Versuch bekommt weder dem Autor noch seiner Verteidigerin. In der Jury tut sich durch den Ausschied des Schweizerkindes Juri Steiner ein Unwuchtsproblem auf. Dazu im Abschlussbericht mehr.

Der fallende Mann

Gianna Molinaris Text erinnert mich an eine Sequenz aus Don DeLillos Roman Falling Man. Er verarbeitet das Nineleventrauma, findet darin, so nebenbei, zu dem dermatologischen Befund von human shrapnel, das sind Spuren menschlichen Gewebes, die durch die Wucht der einstürzenden Zwillingstürme in menschliche Poren gepresst wurden.

In Molinaris Text fällt ein Mann vom Himmel, beobachtet von einem Wächter, der zu diesem Vorfall eine Mappe anlegt. Wir können "Loses Mappe" als Asservatenkammer für Relikte weltweiter Krisen betrachten. Die Figur des Wächters steht für die Ohnmacht der Zeugenschaft. Es lässt sich nicht ignorieren, wenn Opfer politischer Krisen unserer Welt aus dem Fahrwerksschacht eines Flugzeugs fallen und in der Gemarkung einer Gemeinde auf der Erde landen, die die Übernahme der Begräbniskosten verweigert, weil der Tod schon eingetreten sei, bevor der Mensch auf ihrem Boden landete. So plädiert man literarisch ohne Spurennachweis für ein Grab in den Lüften, das als Idee provoziert zu haben, wäre nicht das geringste Verdienst von Molinaris Text.

Die Jury windet sich. Sie könnte etwas mit dem Text anfangen, will es aber nicht. Gmünder billigt der Autorin zu, das politisch verminte Gelände der weltweiten Fluchtkrise durch erzählerische Distanz zur Sprache zu bringen. Kegel findet interessant, wie Molinari ihr Verfahren sichtbar macht.

In Gefahr und großer Not sei der erzählerische Mittelweg so gut wie tot, meint Kastberger, findet den Text gut, wo er nicht er selber sei. Ist die Einschlagstelle, da wo der Mann auf der Erde aufschlägt, nicht selber ein Skript für die Fluchtkrise (Keller)? Feßmann erinnert an Sebalds Maxime, die wirklich wichtigen Dinge als Nebensachen passieren zu lassen.

Europas längster Sommer

Maxi Obexers Text stellt uns vor ein anderes Problem. Seine Erzählerin nutzt ihre eigene Geschichte als eine in Berlin eingebürgerte lesbische Italienerin aus Südtirol als Kontrapunkt für eine Zugfahrt über den Brenner, an dem die Republik Österreich inzwischen Panzer postiert hat, um die nächste Fluchtkrise auf Abstand zu halten, was natürlich blühender Unfug, aber nicht Gegenstand von Obexers Story ist. Ihr geht es um szenische Details, um die sechs müden Männer in ihrem Zug, die in Rosenheim von der Bundespolizei aus dem Zug geholt werden.

Winkels sieht in dem Text das Symptom einer Betroffenheit, die sich aus der Distanz einer Komfortzone äußere. Die Herabwürdigung einer Bürokratie, die sich damit befassen müsse, betrachtet er als acte gratuite, er sieht in ihm eine Denunziation. Der Text erzeuge ein Klischeebild von der Festung Europa.

Meike Feßmann, die Obexer eingeladen hat, findet den Text experimentell, er benutze eine abgerüstete Sprache und reaktiviere die Geschichte der Erzählerin als Spiegel für aktuelle Migrationen. Das Los hat an diesem Samstag zwei disparate Texte zum Thema Flucht zusammengebracht. So wird der Zufall zum Verständnisvertiefer oder auch -erschwerer.

Kegel vermisst im Text literarische Rafinesse, findet die Erkundung des Fremden über das Bekannte interessant, den essayistischen Ton in manchen Passagen eher untauglich.

Kastberger kann mit dem Text mehr anfangen, sieht eine präzise Beschreibung des Zwiespalts zwischen Willkommenskultur und Rausschmeißen. Die Verbindung zwischen dem lesbischen Comingout der Autorin und der Fluchtkrise findet er nicht nur legitim. Dafür erntet er spontanen Applaus aus dem Publikum. Obexer verschränke zwei exzentrische Fremdheitserfahrungen. Das trifft den Text besser als Wiedersteins Befund unnötig konkurrierender Freiheitsbegriffe. Winkels warnt zum Schluss vor einer Nötigung der Jury, aus politischer Opportunität zwischen einer poetisch nicht so differenzierten Sprache und einer ästhetisch differenzierten Sprache zu entscheiden. Stellt er damit das Werk der Namensgeberin des Preises in einen politisch von den Aporien unserer Gegenwart befreiten Reinraum? Das kann nicht sein. Die Warnung vor einem politisch motivierten Selbstbetrug aber trifft.

Ein Bier im Banja

Urs Mannhart liest zum Schluss des Bewerbs einen Text, der wie bestimmt dafür scheint, den Namen des Autors selbst in Szene zu setzen. Er führt uns in die Wildnis Kirgisiens, in der harte Männer mit Wölfen kämpfen und sich von den medizinisch gut ausgebildeten Frauen kurieren lassen. Ein Text, der nach Meinung Klaus Kastbergers dem russischen Präsidenten gut gefallen könnte, was noch kein Einwand ist, aber das Ausmaß der Fremdheit illustriert, das dieses reportageähnliche Stück in den Raum stellt. Irgendwo da draußen im tiefen Osten gibt es noch so etwas wie eine gnadenlose Natur, Kämpfe von Mann gegen Mann und Mann gegen Wölfe, die einem fast den Arm abbeißen können.

Michael Wiederstein, der in dieser Runde als Nachfolger Juri Steiners selbst wie ein Wolf wirkt und den Eindruck erweckt, als kämpfe er im Nebenberuf in Alaska mit Grizzlies um Lachse, holt mit Mannharts Text eine posthistorisch wirkende Heroik zurück in die literarische Gegenwart.

So weit weg sind die Wölfe aber nicht. Die archaische Welt ist nicht so archaisch, wie es scheint. Die Helden kämpfen auch für geile Instagram-Postings mit frisch gefangenem Wolf. Kegel sieht zwei Welten und Systeme, die sich überlappen, die durch ihre dichte Beschreibung ein teilnehmendes Beobachtung auch fernster Fernen ermöglichen, auch wenn es mitunter nur für die Fototapete reiche. Kastberger reagiert kollegial ironisch, jetzt wisse er, wo Wiederstein sich nicht langweile und fragt sich, was Mannhart von Peter Rosegger unterscheide.

Winkels gesteht der Story eine im Vortrag nicht erkennbar gewordene Fallhöhe zu, die auf ihn wie ein vormodernes Echo auf John Wrays Text Madrigal wirke. Was für ein Möbiusband verbindet die Wolfsepisoden des Textes?

Der Verzicht auf literarisches Brimborium (Wiederstein) klingt als Lob etwas zu trotzig, um ernst genommen werden zu können. Keller sieht bei Mannhart Talent für Askese und Reduktion. Mit den beiden Argumenten könnte auch ein Wiedergänger Ernest Hemingways nach Klagenfurt eingeladen werden.

Ob die Männer zu alten Rollenmodellen regredieren und die Frauen nun theatralisch den Ton angeben? Feßmanns Fazit klingt eher wie das Angebot eines taktischen Bündnissses an Wiederstein. Ob sich das bezahlt macht, werden wir am Sonntag sehen.

Die 41. Tage der Literatur finden vom 5. bis 9. Juli statt. Unser Autor Hans Hütt bloggt exklusiv auf freitag.de aus Klagenfurt

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