Spannungen, tief im Inneren der Erde, die durch noch unmerkliche Mikrobeben das Gebirgsmassiv der Gesellschaft erschüttern lassen, sensorisch wahrgenommen, in Traumarbeit konvertiert. Zwar scheint sich nichts verändert zu haben. Wo kommt nur dieses trostlose Gefühl her, das sich langsam ins Gemüt fräst, namenlose Trauer, gut abgekapselt? Seltenes Seufzen, tiefes Durchatmen, blank liegende Nerven bezeugen ihre Gegenwart. Vortrauervorrat. Ungefähr so ließe sich das Verdienst der fünf nominierten Bücher umschreiben.
Frohburg
Guntram Vespers Romanliefert so etwas wie literarisches Wahrheitsserum gegen die politischen Illusionen des letzten Jahrhunderts. Ihn eine Chronik zu nennen, unterschätzt die erzählerische Potenz Vespers und die Modernität, mit der er Erzähltraditionen (Boccaccios Decamerone, Hebels Schatzkästlein) mit einer fein dosierten Resonanz des 21. Jahrhunderts verbindet. Vesper erzählt die weitverzweigte Geschichte seiner Familie in der südsächsischen Stadt Frohburg, umspannt über 150 Jahre sächsischer Geschichte, bis in die jüngste Gegenwart, etwa am Beispiel des heutigen Ministerpräsidenten, der seinen Militärdienst bei einer Grenzschutzkompanie ableistete, unter Schießbefehl, 40 Jahre vor Frau von Storchs seltsamen Ideen.
Vesper erzählt von den frühen Jahren vor und nach 1945, bis seine Familie nach dem niedergeschlagenen Ungarnaufstand 1957 in den Westen floh. Unter seinem Blick verwandelt sich die Industriegeschichte des Erzgebirges und des Braunkohletagebaus südlich von Leipzig in die Geschichte einer Barbarei. Wie ein Herodot der Mikrogeschichte Sachsens geht er zahllosen Einzelschicksalen nach, verbucht sie als Bücher- und Schicksalssammler mal auf der Haben-, mal auf der Sollseite der politischen Geschichte. Wer erfolgreich etwas gegen den Schwelbrand des Rechtsradikalismus im Freistaat Sachsen unternehmen will, setzt dieses oft auch sehr komische Buch auf den Lehrplan aller Schulen, holt Vesper als räsonierenden Erzähler in residence für ein Studium generale an die Hochschulen des Landes.
An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Ein Ensembletext. Aus der Ferne winkt die Erinnerung an Peter Handkes Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. Im Januar 2003 legt ein Schneesturm den Autobahnverkehr nach Berlin still. Im Stau von über 40 Kilometern kommt es durch Auffahrunfälle zu einem Großbrand. Der polnische Hilfsarbeiter Tomasz, auf dem Weg zurück nach Berlin, fotografiert am Waldrand einen Wolf, der in dieser Nacht die Oder überquert hat. Weitere Protagonisten sind zwei Jugendliche, die, nach häuslicher Gewalt der depressiven Mutter gegen ihre Tochter, durch Schnee und Kälte das Weite suchen, ein alter Mann, der mit Flinte und Fernglas sich auf den Weg zu einem Hochsitz am Waldrand begibt, Agnieszka, die Freundin von Tomasz, der neu verheiratete Vater des weggelaufenen Mädchens, eine türkische Volontärin einer Berliner Zeitung auf der Suche nach einer Wolfsstory, nachdem Agnieszka das Wolfsfoto von Tomasz an eine Berliner Zeitung verkauft hatte, eine Frau, die die Tagebücher ihrer Mutter verbrennt, ein Nachtbarbetreiber zweifelhafter Herkunft mit Vorliebe für minderjährige Mädchen.
Roland Schimmelpfennigs Text wirkt wie eine Prosaübung über Baudrillards Buch Der symbolische Tausch und der Tod. Lakonisch, fast lapidar reiht er Sequenz an Sequenz. Man denkt an frühe Romane von Cormac McCarthy, an Don DeLillo, an einen Episodenfilm aus der Kälte des neuen Berlins. Tomasz vollendet die Metamorphose der Stadt. Das greise Paar, im Parterre des von ihm entkernten Hauses in Prenzlauer Berg übrig geblieben, heizt mit der eigenen Scheiße, versinkt in Delir und Demenz. Ein Döblin des 21. Jahrhunderts, der seine Protagonisten auf eine Umlaufbahn durch die Kälte schießt.
Der goldene Handschuh
Die Vorhölle liegt mitten in St. Pauli, ein Trinkerparadies, um die Ecke der Reeperbahn. Die Vorhölle ist rund um die Uhr geöffnet. Ihren Namen „Zum goldenen Handschuh“ verdankt sie dem Boxer Herbert Nürnberg. Ihre Stammkunden heißen Tampon-Günter, Soldaten-Norbert, Leiche, Anus. Nur die Schimmligen, der Bodensatz des Bodensatzes, bleiben namenlos. Zu den Stammkunden gehört auch Fiete, Fritz Honka, der Serienmörder. Seine Geschichte erzählt Heinz Strunk im Roman Der goldene Handschuh. Die Trinker des Goldenen Handschuhs sind illusionslose Sprachkünstler. Ihr Pegelmanagement kennt zahllose Schattierungen des Suffs: Schmiersuff, Sturzsuff, Druckbetankung, Verblendschnäpse, Vernichtungstrinken.
Strunk erzählt eine trostlose Passionsgeschichte. Auf der einen Seite die Trinker im Goldenen Handschuh, auf der anderen Seite die Säufer einer Hamburger Reederfamilie. Der Hass ihres Seniors auf seinen Nachfolger wirkt wie ein Spiegelbild des Serienmörders, der in seiner Mansardenwohnung, unter dem Gestank der Opfer, die in der Abseite kaum übertüncht durch Raumspray und Urinsteine verwesen, sein nächstes Opfer in den Blick nimmt. Strunk findet dafür eine lakonisch präzise, ungeheuer intuitive Sprache, die seine Protagonisten nicht vorführt, sondern in ihrem Dahingehen aus sich selbst heraus zum Reden bringt. Keine therapeutische Intervention funkt dazwischen.
Dass auch am unteren Ende der bürgerlichen Gesellschaft ein designiertes Opfer zuvor einen Vertrag mit seinem späteren Mörder unterschreibt, in dem es sich seinem absoluten Willen unterwirft, ist kein Hohn, sondern den Akten des hamburgischen Staatsarchivs entnommen. Die Gesamtkomposition des Romans wirkt wie die eines Films aus dem Frühwerk Rainer Werner Fassbinders. Es stimmt alles, auch die Adamo-Schnulze Es geht eine Träne auf Reisen passt ins Funzellicht.
Den Kontrapunkt zu Fritz Honka geben der aknezerfressene Reedersohn und sein Onkel. Auch sie kommen über eine instrumentelle Praxis des Sadismus nicht hinaus. Sie haben sich durch den Suff in größenwahnsinnige Universen verwandelt. Alles unter Kontrolle. Heinz Strunk antwortet mit dem Goldenen Handschuh implizit auf Daniel Schreibers Buch Nüchtern, das bei seiner Premiere im S-Bahnbogen des Savignyplatzes von bekennenden Trinkern gefeiert wurde. Du magst trocken sein, so Strunks Antwort auf Schreiber, der Größenwahn aber behält dich in seinen Krallen.
Der Fuchs
Finn Schliemann lebt an der Nordsee in Thule. Es gehört nicht viel Spekulation dazu, in ihm eine Kreuzung zwischen Huckleberry Finn und Heinrich Schliemann zu erkennen. Der 714-seitige Roman ist wie ein Palimpsest zu lesen. An der Oberfläche die Coming-of-Age-Story Finns und seiner Freundin Katja, eine zarte Liebesgeschichte zwischen zwei versehrten Jugendlichen im Niemandsland Thules, einer Welt, die abstoßender kaum sein könnte: Stumpfsinn, Suff, durch den Deich begrenzter Horizont erzählen, nach Jan Brandts und Hinrich von Haarens Romanen, ein weiteres Mordseekapitel.
Durch die Rahmenhandlung erzählt Nis-Momme Stockmann zugleich eine postapokalyptische Schöpfungsgeschichte mit dem dazugehörigen göttlichen Personal. Schließlich funkt auch noch eine Science- Fiction-Erzählung dazwischen, was die Idee nahelegt, den Roman als literarisches Opus magnum des spekulativen Viszeralrealismus zu lesen. Im Juli 2012 fällt Thule einer Jahrtausendspringflut zum Opfer. Finn hat sich mit Freunden auf das Dach eines Hauses geflüchtet, sieht die Trümmer seiner Welt im Brackwasser an sich vorbeitreiben und erzählt die Vorgeschichte ihres vorhergesagten Endes. Finns Thule morpht Schliemanns Troja, seinen Untergang und seine Ausgrabung in CinemaScope zusammen. Stockmann findet dafür eine atemberaubend scharfe Prosa, boshaft, witzig, sarkastisch und, wo es angebracht ist, gut dosiert lyrisch. Er verarbeitet dafür eine ganze Reihe von Textsorten, die zur politischen Adoleszenz des 21. Jahrhunderts gehören, kommende Aufstände ebenso wie entlegene Kosmologien, gut grundiert durch ein naturwissenschaftlich-philosophisches Weltbild, das Illusionen keinen Platz lässt und den Wahnsinn zum Blühen bringt. Der Doppelkreis mit dem senkrechten Radiusstrich, der jedes Kapitel beendet, nimmt den Leser ins Visier. Du bist tot und weißt es nicht. Atemberaubend! Mein Favorit.
Geliehene Landschaften
Wie schön, dass diese so leichtfüßig daherkommenden und in die Tiefe ziehenden Gedichte Marion Poschmanns ebenfalls für den Leipziger Buchpreis nominiert sind. Der Titel der Gedichtsammlung evoziert ein Schuldverhältnis zur Schöpfung. Die Gedichte tilgen Schuld und Zinsen, zahlen es uns heim, öffnen die Augen für einen neuen Blick auf die morose, so schöne Welt.
Info
Frohburg Guntram Vesper Schöffling & Co 2016, 1.008 S., 34 €
An einem klaren, eiskalten Januarmorgen... Roland Schimmelpfennig 256 S., 19,99 €
Der goldene Handschuh Heinz Strunk Rowohlt 2016, 256 S., 19,95 €
Der Fuchs Nis-Momme Stockmann Rowohlt 2016, 720 S., 24,95 €
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