Nationalhymne wegspülen: Radio 100 wird 30

Tabubrecher 1987 ging Radio 100 auf Sendung. Unser Autor erinnert sich an eine Zeit voller Experimente, bei denen die Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus eingerissen wurde
Ausgabe 09/2017

Am Anfang war das Wort. Es lag bei uns, und es war gut so. Erst Wochen später hinkte Ulrich Schamonis Radio Hundert,6 hinter uns her. Wir sendeten auf der gleichen Frequenz: 100,6 MHz. Unvorstellbar. Die einen endeten mit der Nationalhymne. Die anderen antworteten mit einer Klospülung. Es war 1987, und wir replizierten im Rundfunk die geteilte Stadt auf einer geteilten Frequenz. An den Berührungspunkten fehlte nur wenig zu Schießtürmen und Grenzhunden. Zu verdanken hatten wir, die Crew von Radio 100, die Frequenzteilung dem Kabelrat, vorneweg dem Direktor seiner Anstalt, Hans Hege, der der alternativen Szene Westberlins einen Weg in den Himmel über der Stadt bahnte.

Wir waren ungeheuer jung, voll der besten Absichten und, von einigen Ausnahmen abgesehen, weitgehend ahnungslos, was das Medium, seine Ästhetik und seine Produktionsbedingungen betraf. Mit den besten Absichten bahnten wir an der Schwelle zu neuen Techniken den Weg in den Fastuntergang von traditionsreichen Berufsbildern: den Tonmeistern, den Cuttern, den Regisseuren, den Technikern. Wir machten alles selbst, und so hörte sich das auch an.

Selbst Medienjournalisten, die uns wohlgesonnen waren, wie der so früh gestorbene Jens Brüning, waren manchmal entsetzt und hatten Mühe, zu akzeptieren, dass unsere Tonspuren so schmutzig waren. Der Schmutz dieser Stadt fand, neben den Frontstadttönen aus AFN, RIAS und SFB, in die Ohren auch jenseits der Mauer. Dort hatten wir, besonders durch Radio Glasnost, ein treues Publikum, das mit Doppelrekordern unsere Programme mitschnitt und im Samisdat der alternativen Szene Ostberlins vertrieb.

Ökonomisch begegneten sich auf der Frequenz 100,6 Mhz Exponenten aller Westberliner Mischpochen: bei Schamonis Geldgebern vorneweg Westberliner Baulöwen, bei Radio 100 die Exponenten der Alternativkultur. Die Selbstgefälligkeit Georg Gafrons, Schamonis Geschäftsführers, und die Ohrsülze Frank Schmeichels, der in die Hörmuscheln masturbieren ließ, bewirkten vitale akustische Immunreaktionen.

Radio 100 versammelte Exponenten neuer sozialer Bewegungen: von den Dissonanzen der Berliner Frauenbewegung über die Internationalisten, die Multikulti neu dachten, bis zum schwullesbischen Eldoradio. HP Kuhn, Johannes Schmoelling und Niko Tenten waren die Audionauten, die den Sounds der Stadt und der Welt zu neuen Ausdrucksformen verhalfen.

Wir arbeiteten mit einem tödlichen Handicap. Unsere Gesellschafter waren schon vor Sendebeginnn so zerstritten, dass jede neue Fassung ihres Gesellschaftsvertrags sich wie ein Dokument der Zerrüttung las. Wir hatten keine Chance, nutzten sie aber, so lange es nur ging. Im Februar 1991 war Schluss damit. Erbschleicher der Lizenz wurde Radio Energy. Bis es so weit war, sendeten wir erst vier, dann sechs und schließlich 24 Stunden täglich.

In dieser Zeit mauserten wir uns zur wildesten Journalistenschule Deutschlands. Wir waren Schrittmacher für werbefinanzierten Rundfunk, auch wenn unsere Einnahmen weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Und wir waren Tabubrecher der Medienordnung, indem wir die imaginären Mauern zwischen Journalismus und Aktivismus durchlöcherten.

Info

Am 3. und 4. März erinnert im Berliner Columbia-Theater Radio 100. Die Rückkehr des Radios an diese aufregende Zeit. Mehr zum Programm auf radio100.de

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