Es kann kein Zufall sein. 1963, in dem Jahr, in dem die dritte Staffel von Ku’damm spielt, erscheint bei Rowohlt zum zweiten Mal die deutsch-französische Ausgabe der Gedichte von Arthur Rimbaud. Dass ich ein anderer sei, die Hellsicht Rimbauds, schwebt wie ein guter böser Geist über der dritten Staffel der TV-Serie. Er schmiegt sich in die Geschichte wie ein erwachender, noch leicht schlaftrunkener Möglichkeitssinn, der die Damen und Herren (wir befinden uns im Kosmos der Tanzschule „Galant“) in Unruhe versetzt, als seien sie im Begriff, sich als Marionetten von den Fäden zu lösen, die sie führen, und nun aus eigener Kraft in die Welt zu treten und Geschichte zu schreiben. Die Sprache ihrer Leiber bringt es an den Tag.
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Gleich zu Beginn von Ku’damm 63 gerät die Prinzipalin der Tanzschule (Claudia Michelsen) unter einen Bus, ein Unglück, das sonst nur wenige überleben. Frau Schöllack aber, von ihren erwachsenen Töchtern Helga, Monika und Eva immer noch „Mutti“ genannt, schafft es mit Stahlkorsett, alsbald wieder „Haltung zu zeigen“. Haltung ist im Tanz mehr als die halbe Miete. Mit Haltung ist die ganze Welt zu umrunden, selbst wenn sie eben noch in Trümmern lag. Haltung zu bewahren, das ist das Geheimnis dieser Serie, erlaubt es, das Beunruhigende auf Abstand zu halten, also sichtbar zu machen. Haltung bezeugt die in die Körper und in die Charaktere eingeschriebene Kraft der Verdrängung.Das geht bekanntlich nicht gut aus. Darüber geben die Bücher von Alexander und Margarete Mitscherlich Auskunft, die in den 1960er-Jahren erschienen sind. Die Ku’damm-Serie ist mit ihren Werken besser zu verstehen, um nicht dem Arrangement der Serie und ihren Oberflächen auf den Leim zu gehen. Die Inspiration reicht von der „vaterlosen Gesellschaft“ über die „Unwirtlichkeit der Städte“ bis zur „Unfähigkeit zu trauern“. Ironie am Rande, die den Mitscherlichs damals nicht aufgefallen war: Die vaterlose Gesellschaft war oft tatsächlich vaterlos, nicht weil die untreuen väterlichen Vögel sich davongemacht hatten, sondern weil sie tatsächlich nicht da waren. Selbst wenn sie da waren, wirkten sie auf ihre Kinder mitunter wie geistesabwesend. Flashbacks in die Flakbatterie oder in Gefangenenlager konnten Väter symptomatisch unter Kontrolle halten. Dafür durften sie ihre Gattinnen als „Mutter“ anreden. Immerhin sagten sie dann nicht „Mutti“. Das weite Register von Ersatzhandlungen ist eine wunderbare Inspirationsquelle für die subtile Dramaturgie der Serie. Sie hat analytische Fallbeschreibungen zurückübersetzt in Geschichten und Leidenssymptome.Eiserner KonformitätsdruckDas Arrangement der Mutter und Töchter Schöllack lässt sich daher auch als gut camouflierte Prähistorie der jüngsten Feminismus-Geschichte verstehen. Die lüsterne Prüderie der Elterngeneration ist gewiss kein Rollenvorbild für gefallende Töchter. Mit dem Urbild der kokett strafenden Mutter konfrontiert („oben hui, unten pfui!“) bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als das Weite zu suchen. Zuflucht bieten den jungen Damen Schöllack ein heimlich schwuler Ehemann (der als Staatsanwalt die Anklage gegen Homosexuelle vertritt), ein wesentlich älterer, vermögender, leider auch gewalttätiger Ersatzvater und ein ödipal schwer geschädigter Millionenerbe.Vier Jahre vor den Demonstrationen gegen den Schah-Besuch vor der Deutschen Oper (und vor dem Tod von Benno Ohnesorg) nimmt die Geschichte der Schöllack-Töchter Anlauf zu neuen Haltungen. Sie proben den Protest, als ginge das vor einem Spiegel. Der teilt ihnen immerhin mit, dass sie gut dabei aussehen. Also nur weiter so!Es fällt nicht schwer, darin Spuren der eigenen Jugend wiederzuerkennen. Der Besuch der Fernsehtanzschule in Düsseldorf wurde flankiert von Schulstreiks gegen die Notstandsgesetze. Abends lernten wir, wie wir formgerecht um den nächsten Tanz bitten, morgens verteilten wir ein blau eingebundenes Heftchen zur sexuellen Befreiung, das das Buch Zeig mal! von Will McBride vorweg nahm, das acht Jahre später, 1974, im evangelischen Jugenddienstverlag erschien. Ein Schüler wurde wegen des blauen Heftchens von der Schule relegiert, was einen anderen, künstlerisch begabten Schüler dazu brachte, einen Comic zu zeichnen, der in wunderbarster Drastik davon erzählt, wie der Sex nach Disneyland kommt. Lenin in Comicsprache: Wer pimpert wen?Ein empirisches Datum zu finsteren Hintergründen der Ku’damm-Serie: Im Jahr 1963 kam es zu 2803 Strafurteilen gegen homosexuelle Männer nach dem StGB-Paragraphen 175. Nicht enthalten sind in dieser Zahl damals laufende Ermittlungsverfahren. Die tatsächliche Dunkelziffer von Suiziden liegt vermutlich weit höher als die aus der Statistik abgeleitete Zahl von fast 15.000 Suiziden im Jahr 1963.Eiserner Konformitätsdruck hielt die heranwachsende Jugend der frühen und mittleren 60er-Jahre in nervöser Spannung. Relikte gelten noch heute, wie etwa das Tanzverbot am Karfreitag, das nun aus pandemischen Gründen durchgesetzt wird. Dass die Gründe für Verbote wechseln, macht sie nicht überzeugender.Eine weitere Inspirationsquelle für die Serie scheint nur am Rande eine Rolle zu spielen, ist aber gerade daher historisch adäquat in Szene gesetzt: die Frankfurter Auschwitzprozesse. Im Alltagsbewusstsein kamen sie auch kaum vor. Sie schrieben durch das Stück Die Ermittlung von Peter Weiss Theatergeschichte. Weiss montierte Verhandlungsprotokolle der Prozesse von der Ankunft an der Rampe von Auschwitz bis zum Weg in den Feuerofen.Aber die Serie erzählt die Geschichte einer bürgerlichen Tanzschule. Chachacha, Foxtrott und Tango führen nicht in die Gasöfen. Die blaken nur von ferne. Aber der 16-Jährige erinnert sich an einen fast tödlichen Autounfall von zwei Schulkameraden, in den nichts hineingeheimnist werden konnte, der aber als Signal des Schreckens unvergessen geblieben ist. Wer fragt schon nach den Motiven eines Autounfalls. Unfälle passieren, basta!Aber wir oszillieren als Zuschauer der Serie unentwegt zwischen der erzählten und der erlebten Geschichte. Ein frühes Referatsthema in meinen Tübinger Jahren befasste sich mit August Bebels Buch Die Frau und der Sozialismus. Empirische Kulturwissenschaften interessierten sich für die Zwischentöne, etwa dass die Kirchenväter die Ehe zum Sakrament erhoben hätten, weil sie eingesehen hatten, dass gegen den Ehebruch kein Kraut gewachsen war. Hier, in der TV-Geschichte, entsteht ein Bild von der kalten Seite ehelicher Zugewinngemeinschaft, als sei das Recht auf den wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane nur die Umsetzung der Unternehmenszwecke einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Im Jahr 1962 erschien Alexander Kluges Kurzgeschichte Ein Liebesversuch, der für die Kälte von Beziehungen zwischen Frauen und Männern den unverfallbar absoluten Nullpunkt beigesteuert hatte.Die 60er in unsSo sehen wir mit dem historisch vergleichenden Echo, welch subtile und meisterhafte Leistung mit dieser Unterhaltungsserie gelungen ist. Sie hat ihre Quellen studiert und adaptiert. Als späte junge und als alte erfahrene Zeitgenossen lehrt die Serie uns das mitfühlende Schaudern. Die Musik, unentbehrliches Requisit einer Tanzschule, liefert hierfür den Antrieb, als befänden wir uns auf einer Achterbahn der Gefühle, über die sich ein Verdeck schließt, das in uns die Sehnsucht nach dem Ausbrechen nährt. Eine Heldin am Rande kommt ins Bild, Hannelore Lay, die ins Exil nach Kalifornien gegangen ist, „um nicht für Goebbels singen zu müssen“. 24 Jahre später sang Udo Samel 1987 im Berliner Hebbel-Theater: „Mein Schwiegervater lebt in China, im gelben Himmelreich der Mings, assimiliert sich in der Tiefe und schreibt mir vertikale Briefe anstatt wie einst von rechts nach links.“Auch die Requisite der Serie ist zu loben. In der dritten Staffel steht auf dem Kurfürstendamm vor der Tanzschule ein Peugeot 404, das Fahrzeug der Nouvelle vague, einer neuen Welle der Filmgeschichte, als seien eben erst Alain Delon und Brigitte Bardot ausgestiegen, um vor den Augen der korsettgestählten Prinzipalin Schöllack den laszivsten Tango der jüngeren Weltgeschichte zu tanzen.So bleibt als Fazit der dritten Staffel dieser TV-Serie festzuhalten, dass sie uns in eine Zeit entführt, der wir bis heute nicht erfolgreich entkommen sind.
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