Tomer Gardi und die Krähen

Bachmannpreis 2016 Als das Erzählen in den guten Texten an Fahrt aufnahm, konnten nicht mehr alle Juroren das Tempo mitgehen

Am Vorabend feiert sich die Residenzstadt Klagenfurt nach einem Drehbuch, das Miloš Forman geschrieben haben könnte. Es gibt einen Feuerwehrball, nur ohne Feuerwehr. Ob die Miss-Wahl noch kommt oder nicht, ist egal. Nur die Rettungsaxt fehlt, die Burkhart Spinnen, dem langjährigen Vorsitzenden der Jury, zu überreichen gewesen wäre. Dafür bekommt er eine Goldmedaille der gastgebenden Stadt. Spinnen beschwört in seiner Klagenfurter Rede den „Mythos Klagenfurt“, dekonstruiert ihn als eine Projektion, übersieht den Befund Hans Blumenbergs, eines anderen Münsteraners, dass Mythen ihre Dementis gestärkt überleben können, wozu am nächsten Morgen die neue Dekoration des ORF-Landesstudios ihren Teil beiträgt. Das Publikum sitzt in zwei Blöcken einander gegenüber. An der Stirnseite, gegenüber dem Tribunal-Halbrund der Jury, sitzen bzw. stehen die vortragenden Autoren, während ihre Texte auf den Boden projiziert werden. Mene tekel u-parsin wird heute gescrollt.

Die Jurorinnen und Juroren ziehen ein wie postheroische Gladiatoren. Keine Löwen stehen bereit, sie zu zerfleischen, auch keine kampfstarken Teutonen oder Goten. Selbst wenn ein Autor wie Tomer Gardi zur Verteidigung seines Textes ausholt, bleibt er unhörbar. Sein Mikrofon ist abgeschaltet. Das Zerfleischen entspricht nicht dem Rollenverständnis moderner Literaturkritik. Auch nicht das Filetieren oder Sezieren. Worin besteht (in Klagenfurt) die Funktion der Kritik? Trägt die Auswahl der Autorinnen und Autoren kuratorische Züge?

Das wäre zu wünschen. Worin machte sie sich bemerkbar? Es reicht nicht aus, einen eingeladenen Schutzbefohlenen auch dann noch zu verteidigen, wenn es kaum mehr etwas zu verteidigen gibt. Es reicht auch nicht, nach Rettungsankern der Philologie und Grammatik zu rufen, wenn auktorialer Eigensinn die Sprache so virtuos zerlegt wie Tomer Gardi oder wenn eine Überfülle von Orientalismen einen Text zu überwuchern beginnen und darüber die satirische Intention des Autors zerbirst.

Im Zeichen der Asymmetrie

Die Asymmetrie zwischen Autoren und Juroren flottiert. Die einen riskieren etwas. Andere suchen Zuflucht bei Hausgöttern oder halbgaren Referenzen. Waffengleichheit wäre gegeben, wenn auch Kritik ins Risiko ginge, wozu am Vorabend Burkhart Spinnen ausdrücklich ermuntert hatte, wenn sich die Kritik der Riskanz der ausgewählten Texte gewachsen zeigte. Einige Juroren können das: Sandra Kegel, Klaus Kastberger, Hubert Winkels. Das versonnene Schweizerkind Juri Steiner ist der Träumer der Jury. Frau Keller zeigt viel guten Willen auch dann noch, wenn Einspruch geboten wäre. Stefan Gmünder könnte man mit einem Buddha der Stoa verwechseln und ins Grübeln kommen, ob er je Anzeichen von Temperament zeigt. Frau Feßmann wirkt überfordert.

Die Dramaturgie des 40. Bewerbs lebte von der Gewalt des Loses, das die Reihenfolge der Lesungen festlegt. Stefanie Sargnagel, eingeladen von Sandra Kegel, musste als erste antreten. Über die statistische Aussichtslosigkeit dieses Platzes obsiegte ihre Fangemeinde. Sie erhielt den Publikumspreis für einen Text, der Wiener Schmäh auf der Höhe der heutigen Zeit vorführt. Dass die Jury sie nicht in die Shortlist holte, mag daran liegen, dass dieser Ausgang vorhersagbar schien. Dennoch wirkt es als Kränkung, dass man ihren Text nicht in die engere Wahl gelangen ließ. Sie wird es verkraften.

Den mit 25.000 Euro dotierten Bachmannpreis der Stadt Klagenfurt erhält die britische Autorin Sharon Dodua Otoo. Sandra Kegel hat sie eingeladen. Otoo legt eine Versuchsanordnung vor. Es sieht so aus, als wollte sie mit der einleitenden Gebrauchsanweisung ihre Leser darauf vorbereiten, dass ihre festgefügte Welt, die Routinen, das Oben und Unten, ihnen gleich um die Ohren fliegen würden. Schnallt euch besser an! Denn das Ei, das Herr Gröttrup, einst von den Russen gekaperter deutscher Raketenforscher, nun Ruheständler im Großraum München, nur als hartes Ei akzeptiert, hatte in einem Anfall von Eigensinn beschlossen, auch nach mehr als siebeneinhalb Minuten im kochenden Wasser nicht hart zu werden. Die Dinge entwickeln Eigensinn. Neben dem Ei gelangen auch ein Lippenstift und ein roter Teppich zu Selbstbewusstsein, finden zu einer eigenen Stimme im Kosmos der Gröttrups.

Dem Internet der vernetzten Dinge geht ihre Ichwerdung voraus. Das Spiel der Autorin geht auf. Sie spielt mit kulturellen Äquivalenzen. Dem Eigensinn des Eis, seiner Renitenz gegen Naturgesetze des Hartwerdens, entspricht der spöttische Blick der Autorin auf die so festgefügt scheinende Ordnung von Geschlechterrollen und Rassen. Dem pensionierten Ballistiker zerschießen Otoos Projektile des Eigensinns die Ordnung. Die explosive Kraft der neuen Antriebe überfordert ihn. In seiner späteren Laufbahn als Informatiker bei der Standard Elektrik AG hatte der wahre Gröttrup elektronische Zugangssysteme entwickelt. Otoo nutzt seine Technikkarriere als Metapher für die longue durée sozialen Ausschlusses. Ihr Gröttrup könnte das verstehen, wenn er das Ingenieursdenken sozial und kulturell weiter fasste. Ob ihm das renitente Ei die Augen öffnet, bleibt offen. Es wäre ihm, der Autorin und ihren Lesern zu wünschen, dass er nicht als wurstiger Pappkamerad in die Literaturgeschichte einginge. Otoos Vortrag bleibt auch durch ihr gegen den festgefügten Sinn ansingendes „O“ in Erinnerung.

Dieter Zwicky, eingeladen von Juri Steiner, las schon 2007 in Klagenfurt. Sein Text „Los Alamos ist winzig“ ist ein höhnischer Grabgesang, ein Nachruf zu Lebzeiten. Zwicky trug ihn vor wie ein Märchen. Das Gift träufelte zuckersüß krächzend in die Klagenfurter Ohren. Man musste schon mit verschlossenen Ohren mitlesen, um gegen den Sound dieses Griots den Abgrund zu ermessen, aus dem Zwickys Stimme ertönt. Sie erzählt eine Geschichte, vor dem man schreiend davon rennen wollte. Das Labor des Manhattan Projects braucht nicht erwähnt zu werden. Seine Präsenz manifestiert sich durch Risse in der Realität, durch die Freiheit des Erzählers, die greise Frau neben ihm auf der Bank als alten Waran anzusprechen. Sie war mit einem Quinnie verheiratet, sagt sie, dem mit der verfilzten Haartracht? setzt der Erzähler nach und zeichnet ein Triple-Porträt von drei Quinnies, die in einander morphen, einem dreckig verfilzten kleinen Hund, der in den Keller kackt, einem tolpatschigen Heckenschneider und einem betrunkenen Treppenherabstürzer.

Zwickys Text durchfräst das Bewusstsein des Lesers wie ein Schrei des Hohns. Die Welt des Textes ist trostlos. Seine Stärke liegt darin, dass er dem Trostlosen Komik abgewinnt. Der Erzähler verwandelt sich über der Evokation des durch einen Treppensturzes schwer verletzten Quinnies in eine Frau, die die Metamorphose des Verletzten in einen Buddha pränatal in ihrem Leib durchlebt. Zwickys Text wirkt wie das Echo eines enigmatischen Mythos, der unserer Gegenwart etwas aus der Welt jenseits ihres Endes erzählt. Dafür erhielt er den mit 10.000 € dotierten Kelag-Preis.

Julia Wolfs Text, ein modernes Sportmärchen, ist ein Auszug aus dem Roman Walter Nowak bleibt liegen. Der Text erinnert den Rezensenten an eine beinahe fatale Episode aus dem eigenen Leben. Den ersten Sprung von einem Dreimeterbrett hatte er nur um Haaresbreite überlebt. Als er vom Brett wippte, hatte er die Arme wie ein Skispringer an die Seiten gelegt, fast stromlinienförmig das Wasser durchschossen und war mit dem Schädel auf den Boden des Beckens geprallt. Missglückte Kraulwenden können, wie Julia Wolf erzählt, ähnlich enden. Aber bis es soweit ist, stimmt sie den inneren Monolog des Schwimmers Walter Nowak an. Er ist ein älterer Mann. Eisern folgt er den täglichen Routinen von 40 Bahnen durchs Bad.

Das kalte Wasser wärmt sein innerer Monolog. Walter Nowak wird Opfer der Horizontalspannung seiner Männerphantasien. Sie schnellen ihn bei der Jagd nach einem athletischen Ebenbild seiner Yvonne infolge einer missglückten Kraulwende gegen die Beckenwand. Julia Wolf dreht die männliche Vertikalspannung in die Horizontale, verwandelt den Routineschwimmer in ein Geschoss, das den eigenen Schädel bei einer missglückten Wende gegen die Kacheln rammt, als wollte er sie durchbohren. Aber Walter Nowak ist kein Bohrer, nur in den Männerphantasien, die ihm durch den Kopf gehen. Yvonne „schien wie eigens für mich geschnitzt“, erinnert er sich, während er zuhause auf dem Boden des Bads in seinem Blut liegt und darauf wartet, dass sie ihn findet und er ihr die Geschichte erzählen kann. Julia Wolf erhält für diesen Text den mit 7.500 € dotierten 3sat-Preis.

Tomer Gardis Text hätte größere Aufmerksamkeit verdient. Er zertrümmert meisterhaft und diskret anspielungsreich die deutsche Sprache. Der Erzähler landet mit seiner Mutter in Berlin-Schönefeld. Sie warten vergeblich auf ihre Koffer, bis sie sich dazu entscheiden, zwei übrig gebliebene Koffer vom Rollband zu nehmen. Auch übrig gebliebene Koffer haben ihre Geschichte. Dass die Sprache seiner Mutter nicht die Muttersprache ihrer Mutter war, erzeugt babylonischen Taumel, der Grammatik, Syntax und Orthographie des Textes durchzuckt. Der Kram in den fremden Koffern passt natürlich nicht, aber irgendwie doch, zumindest reicht er, um „deutsche Krähen“ zu verscheuchen. Spätestens hier hätte die Jury Witterung aufnehmen können. Seit wann haben Krähen deutsche Staatsangehörigkeit? Wo kommt das Echo dieser zweiköpfigen Vogelscheuche her, die da so seltsam vor sich hin brabbelt? Der Literaturwissenschaftler Gardi legt seine Spuren diskret aus. Aber es gibt eine präzise Genealogie. Sie macht Gardis Text lesbar als anspielungsreiches Palimpsest, aus dem ein Echo auf Eddi Amsel hörbar wird, dem halbjüdischen Schöpfer furchterregender Vogelscheuchen in dem Roman Hundejahre von Günter Grass. Vor Eddi Amsels Scheuchen nehmen Vögel und Menschen gleichermaßen Reißaus. Irgendwo muss es im Nachlass von Günter Grass einen Bilderzyklus zu diesen Scheuchen geben. Wie verquast wirkt der Ruf nach Philologie, wenn nicht einmal offenkundige Verbindungen zur neueren Literaturgeschichte mehr erkannt werden?

Das Wirkliche wird reversibel

Weitere interessante Texte wurden von Selim Özdogan, Sylvie Schenk, Isabelle Lehn und Marko Dinić vorgetragen. Selim Özdogans Erzähler ist ein kleiner Bruder von Salingers Holden Caulfield und von Lewis Carrolls Alice im Wunderland. Sein innerer Hase, ein langohriges Echo auf Carrolls grinsende Katze, hilft ihm, eine Lebenskrise zu überwinden. Sylvie Schenk spricht in einem inneren Monolog von einem du, das ihre französische Familiengeschichte und ihr Überleben in Krieg und Nachkriegszeit überblendet mit den Geschlechterrollen und ihren Zumutungen. Isabelle Lehn montiert die Simulation einer Special Forces Übung mit der Vorbereitung der Tötung Osama bin Ladens in Abottabad. Arbeitslose Hiwis dienen als Figuranten und Kulissenschieber. Das Kriegstheater wird überblendet von der Belagerung durch den fürsorglichen Wohlfahrtsstaat. Marko Dinić erzählt in Rückblenden, wie sein junger Protagonist den NATO-Angriff auf Serbien erlebt und überlebt. Sein Text erzählt postheroischen Balkan-Rap.

Die guten Texte des diesjährigen Klagenfurt-Bewerbs illustrieren, wie reversibel das Wirkliche wird, wenn das Erzählen an Fahrt aufnimmt. Das geschieht nicht mit dem Holzhammer, eher als diskretes Abrücken von der Wirklichkeit, ihrer verharzten Sprache und Konventionen. Nicht alle Juroren können damit Schritt halten. Das ist schade. Das Risiko des Erzählens hat es verdient, kritische Resonanz zu finden, die das Risiko nicht scheut, sich den Wagnissen der Texte zu stellen.

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