Verzweifelt freundlich

Legende Er brachte den Wahnsinn in und um uns zum Sprechen: der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch. Am 6. Mai wäre er 92 geworden
Ausgabe 18/2017
Hüsch am – natürlich – 1. 1. 1970
Hüsch am – natürlich – 1. 1. 1970

Foto: United Archives/Imago

Sein Leben verdankt er seinen Füßen. Bei der Geburt standen sie 180 Grad exakt nach hinten und in der Achse 90 Grad nach innen, so dass aus ihm, wenn er als Neugeborener hätte tanzen müssen, der Eulenspiegel vom Niederrhein geworden wäre. Um die Füße orthopädisch zu richten, unterzog man sie mehreren Redressionen. Dabei wurden sie „aus ihrer absurden Geburtsstellung in die richtige Stellung gedreht, unter Narkose im Teesieb natürlich, immer schön zählen, sagte die große germanisch-katholische Schwester mit der weißen Tüte auf, die ja bei mir immer und überall dabei war, schön zählen, und ich zählte und zählte und hätte doch am liebsten um mich geschlagen“. Nach sechs Wochen wurde der Gips durch einen Gehgips ersetzt: „Aber da mussten die Ärzte die Redression mit der Hand machen und kamen dabei sehr ins Schwitzen. Und wenn ich sagte: Ich kann nicht mehr, dann sagten die Ärzte: Wir auch nicht.“

Die verdrehten Füße haben Hanns Dieter Hüsch das Leben gerettet. Nach dem Abitur 1943 am Adolfinum in Moers hätte er wie so viele des Jahrgangs 1925 an die Ostfront gemusst. Die Füße machten ihn wehruntauglich. Sie trugen ihn in ihrem eigenartigen, immer etwas vorwärtsschnellenden Gang in eine andere Welt. Unter den Schmerzen der Kindheit entstand ein Verhältnis zur Realität, um das man den jungen Hüsch nicht beneiden musste, von dem aber noch der alte Hüsch zehrte. Das Wirkliche wurde porös. In jedem Satz, in jedem Wort, in jeder Haltung steckte etwas, das nur darauf wartete, mit der Geduld des Eingegipsten zum Tanzen gebracht zu werden. Die schmerzenden Füße brachten ihn – noch unter dem Regime des Übermenschen – dazu, von der Gleichheit der Geschöpfe zu schwärmen, lehrten ihn Respekt vor dem Unvollendeten.

Kreuzzug mit Narren

Sie verhalfen ihm zu einem absoluten Gehör für den Wahnsinn, der hinter den Worten und Gesprächen lauert. Wenn er „wirklich kaum noch was Wirkliches heraushören konnte“, dann waren die Gespräche für ihn auf dem Höhepunkt angelangt. Als sei er „ein Assoziations-Embryo gewesen“. Seine Spezialität: „Gassenhauer und Choral, Spottvers und Bibelstelle, Unterhaltung und Philosophie (…) Küche und Kirche, Heilige und Huren, Freunde und Feinde (…) alles ganz schnell vorüberziehen lassen, wie einen großen Kreuzzug mit Narren und Heimatlosen, entsprungenen Mönchen und büßenden leichten Mädchen.“ Der eigentümliche Gang, der ihm blieb, verlieh diesem Strom des Hyperbewussten etwas Synkopisches. In seinem Leib zuckte der Jazz schon, bevor er ihn erstmals frei hören durfte. Früh fand er Gefallen an schrägen Zweiklängen. Als endlich die Amerikaner kamen, mit Demokratie, Toleranz, Freiheit, auf leisen dicken Kreppsohlen, gab es sonntagmorgens eine Stunde Glenn Miller.

Kabarettistische Anfänge brachten ihn 1947 in Mainz zusammen mit Elmar Tophoven, damals Leiter des Theaterstudios, später Samuel Becketts deutscher Übersetzer. Hüschs Freund Hermann Klippel erinnert sich an diese Zeit, dass Hüsch manchmal wochenlang nur mit einem Wort operierte. Wahnsinn als Methode, auch ernste Sachen ruhig, fast leicht und freundlich vorzutragen, das wurde Hüschs Markenzeichen. Dass Eckhard Henscheid ihn, Jahrzehnte später, als „Schaf im Schafspelz“ verhöhnte, war ein grotesk-bitteres Zerrbild, war es Neid?, jedenfalls Zorn auf den freundlichen Ton, mit dem Hüsch „Denn in jeder Leiche ist ein Kind versteckt“ dahersagen konnte, Zorn auf Hüschs Gespür für die Tiefe der Oberfläche. Die Landschaft des Niederrheins lehrte ihn den scharfen Blick auf das Nah- und Fernstliegende. Ihre Weite erzeugt einen Resonanzraum für das Innerliche, das sich nicht so leicht preisgibt. „Wenn der Rheinländer auf die Frage ,Wie isset?‘ ,Gut‘ sagt, dann sagt der Niederrheiner: ,Wie sollet sein?‘ Ja, aus uns krisse so schnell nix raus.“

Zwölf Jahre nach seinem Tod am 6. Dezember 2005 ermöglicht die achtbändige Werkausgabe der Edition diá einen neuen Blick auf Hüschs Gesamtwerk. Die poetischen Texte stimmen epische Liebeshymnen an, die Hagenbuch-Texte ein Bekenntnis zum Absurden. Kein Wunder, dass er Reichs Music For Six Pianos beim Schreiben hörte. Sie halfen ihn, den Minimalismus literarisch zu adaptieren. Die Niederrhein-Texte versammeln Exponate eines Heimatmuseums der Mentalitätsgeschichte. Die christlichen Texte erzählen etwas vom Aufbruchsgeist und der weltzugewandten Innerlichkeit des Protestantismus in der Diaspora. Die politischen Texte geben ein Echo auf die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Kabarett-Texte und die autobiografischen Texte (beide bisher nur als E-Book) schreiben Zeitgeschichte.

Hüschs Werk wird gelegentlich so beschrieben, als ob er etwas entlarve. Der Befund übersieht Hüschs Liebe zur Larve als eigenständige Form, die er anders zum Klingen bringt, nicht als Distanzfigur des Gesichtentreißens, sondern als subtiles Gesamtwerk in Wort, Blick und Klang. Dafür fand er eine auch heute noch zeitgemäße Form des Verzweifelns. Sie holte den Existenzialismus der späten 1940er und frühen 1950er Jahre aus der Klamotte von Baskenmütze, filterlosen Zigaretten und billigem Wein in die Gegenwart. Er konnte verzweifelt freundlich sein. Mit ihm wurde die Kleinkunst zur großen Form. Sein absolutes Gehör konnte er dadurch teilen, ein seltener Augenblick in der Geschichte des Hörens. Er sang für die Verrückten in uns, machte das Ohr offen für den Wahnsinn drinnen und draußen. Sein Begleitinstrument, Hüschs Philicorda-Orgel, erzeugte dazu den wabernden Heulton, wie eine akustische Homöopathie, die ihr Gegengift fein dosiert in die Ohren träufelte.

„Als der liebe Gott mich aus dem Himmel wieder nach Dinslaken mit dem Fahrrad zurückgebracht hatte – ich durfte vorne auf der Lenkstange sitzen – nicht wahr. Da sagte er – wir haben etwa anderthalb Stunden gebraucht – aber auf der Hälfte der Tour – fragte er mich ganz plötzlich: Sag mal, willst du einen Heiligenschein? Also, ich war so verdutzt, dass ich überhaupt keine Antwort raus bekam. Und dann sagte er noch: Ja, ich habe neulich im Himmel ein bisschen aufgeräumt und bei der Gelegenheit auch eine Menge Heiligenscheine ausgemistet. Die zum Teil, ja zum Teil schon verrostet waren oder einfach zu klein oder eingegangen waren. Oder auch völlig verbogen. Mindestens tausend Stück habe ich weggeworfen. Tausend Stück ich allein schon. Ich weiß nicht, wie viele der Petrus noch aussortiert hat. Wir müssen die Dinger wegwerfen, denn so viel Platz haben wir demnächst im Himmel auch nicht mehr. Und da habe ich mir gedacht, ich nehme ein paar zum Anprobieren mit. Hinten auf den Gepäckträger, da habe ich die draufgetan. Es sind so 15 Stück. Du suchst dir einen aus. Du hast ihn dir zwar nicht verdient, aber er wird dir ganz gut stehen. Du brauchst auch gar nichts zu machen. Du musst ihn nur ein einziges Mal über dich halten, da wo du ihn hinhaben willst. Und dann einen Augenblick ganz still stehen bleiben, dann am linken Ohr ziehen, und dann geht er an und leuchtet. Nichts weiter, aber es reicht. Und dann sitzt er und dann kannst du weitergehen. Und dann wirst du ihn auch nicht mehr los. Und wenn du wieder ausmachen willst, brauchst du nur am rechten Ohr zu ziehen und dann geht er wieder aus, wie bei einem Schalter. Nur dass kein Schalter zu sehen ist. Das ist das ganze Geheimnis. Es ist ein wunderbares Spielzeug. Eigentlich habe ich die Heiligenscheine mehr für die Kinder gedacht, aber wenn ich da oben sitze und schmeiße die Dinger runter, dann fangen die Erwachsenen die Heiligenscheine natürlich auf, ich meine, ist ja logisch. Die sind ja ganz süchtig danach. Ja, sagte ich dann, ich will mich ja nicht aufdrängen. Aber wenn du einen übrig hast, warum nicht. Gut, sagte er. Bevor ich dich zu Hause absetze mit dem Fahrrad, probieren wir einige aus.“ Schließlich findet er einen: „Den nehmen wir, der hält mindestens zwanzig Jahre und man kann ihn dimmen, sagte er. Man kann ihn dimmen.“

Als Hanns Dieter Hüsch das Tingeln beendete, nach 70 Solo-Programmen mit über 200 Auftritten jährlich, dürstete es ihn nach einer ernsthaften Theaterrolle. In Dresden wollte er den König Lear spielen, der Verzweiflung und dem Wahnsinn noch einmal durch den eigenen Leib hindurch freien Lauf lassen. Ein Schlaganfall hat ihn davon abgehalten. 2005 starb er am Nikolaustag, als hätte Knecht Ruprecht ihm eine mitgegeben. Mit ihm starb der niederrheinische Bartleby, ein Schreiber, der so subtil zwischen Können und Nichtwollen changierte, dass man, wenn man ihm auf der Treppe begegnete, nicht ausmachen konnte, ob er rauf oder runter wollte. In seinen autobiografischen Texten berichtet er von seiner Jugendliebe Hella Becker, die jüngere Schwester meiner Mutter. So beende ich diese Erinnerung mit der Selbstauskunft eines Möchtegernneffen, der das Andenken an den freien Geist Hanns Dieter Hüsch in Ehren hält. Am Samstag dieser Woche feiert er irgendwo da oben seinen 92. Geburtstag und bringt die Engel zum Tanzen.

Info

Hanns Dieter Hüsch Das literarische Werk in acht Bänden. Herausgegeben anlässlich seines 90. Geburtstags von Helmut Lotz bei der Edition diá Berlin. Der achte Band mit den Interviews erscheint 2017 als eBook

€ 4,95 statt € 14,00 pro Monat

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