Statistik kann gnadenlos sein. Die rechtsextremistischen Straftaten sind in Ostdeutschland drei Mal höher als in den alten Bundesländern. Spätestens bei diesen Zahlen müssten wir aus der seligen Einheitsduselei erschreckt erwachen. Die Zahlen der Arbeitslosen und der ständigen Abwanderung junger Menschen, die viel zu geringen Investitionen und die niedrige Produktivität im Osten werden schon längst nahezu gleichgültig hingenommen. Wenn einer aufschreit - wie Wolfgang Thierse unlängst - wird er als Störenfried hingestellt. Und die reale kollektive Abwertung der Ostdeutschen, ihre weitgehende Verdrängung aus Positionen der Macht, des Einflusses und der Geltung werden - wenn überhaupt - kaum als ernsthaftes Problem zur Kenntnis genom
nommen. Die psychologischen Wirkungen der Verhältnisse im Osten bleiben ausgeklammert oder werden verächtlich abgetan. Das ist nicht verwunderlich, denn wer das Sagen hat, hat immer auch einen Stachel in seiner Seele, der ihn reizt und treibt, der Verleugnung mobilisiert.Wer äußerlich siegen muss, verdeckt seine inneren VerlusteDie seelischen Inhalte aber, die sich von der Bühne verbannt sehen, suchen und finden ihre Auftritte auf Nebenschauplätzen: Eine plötzliche Krankheit erinnert an eine ungesunde Lebensweise. Ein heftiger Konflikt bringt die ungelösten Probleme an den Tag. Ein Skandal entlarvt die verleugnete Wahrheit.Der Rechtsextremismus verweist im doppelten Sinne des Wortes auf unbewältigte Vergangenheit: Auf die psychosozialen Wurzeln des Nationalsozialismus etwa, die bis heute wenig verstanden wurden. Auf die Gefahren, die eine repressive oder lieblose Erziehung für den Einzelnen haben kann. Auch auf die psychologischen Fehler und Folgen des bloßen Beitritts eines Gesellschaftssystem zu einem anderen, über den viele Politiker gnadenlos hinweg gehen, was nicht ohne destruktive Wirkungen bleiben kann. Wer seine Hoffnungen in eine ungewisse Zukunft projiziert und dann scheitern sieht, der muss auch Schuldige benennen, denen er seine Enttäuschungen überhelfen kann. Wer den Erfolg gesucht hat, der flieht tiefsitzender Kränkung, der braucht auch Versager.Geben die Rechtsextremisten an Ausländer, Behinderte und Obdachlose weiter, was sie selbst erfahren haben? Gewalt, Kränkung und Demütigung? Extremistische Positionen sind immer Symptome psychosozialer Verstörung. Am Anfang steht fast immer eine seelische Verletzung, auf die später soziale Abwertung folgt.In einem Interview mit der Woche hat Innenminister Schily die "seelische Zerstörung" erwähnt, die das Herrschaftssystem der DDR in den Menschen angerichtet habe. Eine weit verbreitete Lebensform dort war die Anpassung - das Untertänige, auch das Denunziantentum. Aufgestauter Zorn wurde polizeistaatliche kontrolliert und in ideologischen Feindbildern aufgesogen. Rechtsextremismus hatte da keine Chance. Dafür brauchten die "zerstören Seelen" den Zweitschlag der sozialen Kränkung, der erst mit der Vereinigung vielen Ostdeutschen versetzt wurde. In Gesamtdeutschland sahen sie ihre Lebensleistungen abgewertet, ihre Kompetenzen angezweifelt, ihre Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten beschnitten - das Konkurrenzsystem sorgte für seine neuen Verlierer.Es gäbe keine nennenswerten Rechtsextremisten, wenn ihr Denken und Verhalten nicht das primitive und brutale Abbild einer längst kultivierten Grundeinstellung in der Gesellschaft wäre. Gnadenloser Verdrängungswettbewerb, Konkurrenzdruck und Stärkekult dominieren die gesellschaftliche Werte-Entwicklung. Gewaltbereite Jugendliche mit menschenverachtenden Positionen sind insofern auch die Symptomträger einer sich radikalisierenden Gesellschaft.Wer Angst erzeugen kann, der will die selbst erlittene Angst tilgenGewalt beginnt dann, wenn Kinder nicht gewollt, nicht akzeptiert, nicht verstanden werden. Sie erfahren Gewalt, wenn sie auf Normen der Gesellschaft und Erwartungen der Eltern hin erzogen werden, ohne dass ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten dabei hinreichend beachtet würden. Eine Gesellschaft, die von Heranwachsenden vor allem Durchsetzungskraft im Wettbewerb mit anderen verlangt und auf Leistung drillt, ist gewalttätig! Und wer dabei gekränkt und gedemütigt wird, der will kompensieren, um seelische Defizite in materielle Fülle oder die innere Ohnmacht in äußere Macht zu verwandeln. Was ist Gewalt dann anderes als Macht durch Angst? Wer Angst erzeugt, der will die selbst erlittene Angst tilgen. - Kein Wunder also, dass im Osten Deutschlands die Gewalt wächst. Sie war nur durch eine illusionäre Sehnsucht nach einem besseren Leben von der Bühne verbannt. Jetzt kehrt sie durch die Hintertür zurück, nur viel gefährlicher, weil schleichend und verkannt.Nach einer vormundschaftlich vollzogenen Vereinigung sind viele Ostdeutsche ernüchtert und enttäuscht über die neuen Verhältnisse. Ihr Unmut äußert sich bisher dumpf: Durch Missmut, Nörgelei, eine unver- drossene, auf Versorgung hoffende Verweigerung. Dieser Missmut wird in den Familien oft gereizt und von Vorurteilen gesättigt ausagiert. Kinder und Jugendliche sind die Leidtragenden und verlagern schließlich auch auf die Straße, was ihnen die Eltern vermittelt haben. So werden die ängstlich gemiedene Auseinandersetzung mit vorhandenen sozialen Strukturen und der Protest gegen westdeutsche Dominanz von denen, die seelisch besonders verengt sind, gegen die noch Schwächeren, noch Wehrloseren, gerichtet.Extremismus ist Gefühlsstau + Kränkung - Rechtsextremismus ist Gefühlsstau + Kränkung + öffentlichkeitswirksame Ideologie. Wollen wir also Gewalt und Extremismus wirklich vermindern, brauchen wir eine grundlegende Gesellschaftsreform, die Beziehung höher stellt als Erziehung, die der Gemeinschaft und Verbundenheit mehr Bedeutung gibt als der Konkurrenz und Leistung. Eine Gesellschaftsreform, die das Fühlen unvermeidbarer Begrenzungen so ermöglicht und kultiviert, dass nicht mehr zur Abwehr des Schmerzlichen so aggressiv reagiert wird, wie das allenthalben geschieht. Wenn die politische, ökonomische und intellektuelle Führung der Republik einen solchen Paradigmenwechsel nicht zustande bringt, werden die "Führer" neue Erfolge feiern. Wer die psychosozialen Kräfte leugnet, der mag heute noch glauben, dass Hitler Krieg und Holocaust gegen den mehrheitlichen Willen des deutschen Volkes verbrochen hätte.Hans-Joachim Maaz ist Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik des Diakoniewerkes Halle in Sachsen-Anhalt.Siehe auch mail an die Redaktion nach oben
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