Die Welle der Rekonstruktion

"PANZERKREUZER POTEMKIN" RESTAURIERT Die Wiederherstellung des Werkes wirft ein neues Licht auf Sergej M. Eisensteins Verhältnis zu Trotzkij und sein politisches Denken

Zu den Höhepunkten der diesjährigen Berlinale zählt ohne Zweifel die Aufführung der rekonstruierten Originalversion von Sergej Eisensteins Filmklassiker Panzerkreuzer Potemkin. Der Film beginnt nunmehr mit einem Trotzkij-Zitat, in dem von der 1905 sichtbar gewordenen, unaufhaltbaren "Welle der Revolution" die Rede ist. Mit genau jenem Motto also, das Eisenstein von Kirill Schutko erhielt, als der ihn am 17. März 1925 mit der Arbeit an dem Film beauftragte. Schutko handelte im Namen einer Staatskommission zur Vorbereitung des 20. Revolutions-Jubiläums, zu deren Mitgliedern auch der Maler Kasimir Malevitsch und der Theatermacher Vsevolod Meyerhold gehörten. Die Idee zu Panzerkreuzer Potemkin und ein Drehbuch-Entwurf, der zunächst noch weitere Ereignisse der ersten russischen Revolution berücksichtigte, stammten von Schutkos Frau Nina Agadshanova. Ein Trotzkij-Zitat bot sich vermutlich deshalb an, weil Trotzkij im Unterschied zu Lenin die Ereignisse nicht aus dem Exil verfolgt hatte, sondern aktiv am Petersburger Generalstreik beteiligt war und am 15. Oktober 1905 zu einem der beiden Vorsitzenden des ersten, parteiunabhängigen Arbeiter-Sowjet gewählt wurde. Da Eisenstein seine Filmarbeit als konzeptionelle Bildargumentation, als eine visuelle Entwicklung von Ideen verstand, hatte er keinerlei Probleme mit Schutkos Zitat-Vorschlag. Trotzkijs Metapher von der "Welle der Revolution" griff er in der Eingangssequenz mit realen Wellen im Hafen von Odessa auf.

Doch in der Potemkin-Version, die dann in die Kinos der Welt kam, sind diese Wellen nur mehr ein "Stimmungsbild", da das Trotzkij-Zitat gegen einen Lenin-Spruch ausgetauscht wurde. Ein Zeichen dafür, dass Stalins Kampf gegen Trotzkij bereits begonnen hatte. Die verunsicherte Redaktion der Leningrader Filmzeitschrift Kino veröffentlichte in der Ausgabe vom 20. März 1928 Eisensteins vielzitierten Aufsatz Jenseits von Spiel- und Dokumentarfilm ohne ein für dessen Verständnis wichtiges Zitat aus dem Buch Kultur und Stil des Kunstsoziologen I. Joffe. Der Grund: Joffe war ein Namensvetter von Trotzkijs Kampfgefährten Adolf Joffe. Noch anschaulicher wird der Widersinn der Zensureingriffe im Oktober-Film. In der bislang noch nicht vorliegenden Rekonstruktion der Originalfassung wird nicht nur ein Trotzkij verkörpender Darsteller zu sehen sein, sondern auch das vollständige Lenin-Zitat des Finales: "Die Arbeiter- und Bauernrevolution ist vollzogen. Es lebe die Weltrevolution!". Als Stalin Lenins und Trotzkijs weltrevolutionäres Konzept gegen die "national-sozialistische" Lehre vom "Aufbau des Sozialismus in einem einzigen Land" austauschte, musste der zweite Satz dieses Zitates gestrichen werden: Der Sinn von Eisensteins Bildargumentation, die nach russischen Uhren die Weltzeituhr zeigt, ging seither ins Leere. Die erst nach dem Ende der Sowjetunion möglich gewordene Wiederherstellung von Originalversionen frühsowjetischer Filme ist mehr als ein Akt lediglich filmhistorischer Gerechtigkeit. In der Restaurierung von Details spiegelt sich die Tragödie einer welthistorischen Vision, die in ihr Gegenteil, in die totalitaristische Herrschaft eines staatsbürokratischen Macht- und Zensurapparates verkehrt wurde.

Wiederentdeckt wurde jetzt auch ein seinerzeit in der sowjetischen Filmpresse publiziertes Foto, das Trotzkij während der Dreharbeiten zu Streik zeigt. Trotzkij, der sich während seines kurzen New Yorker Exils (Januar bis März 1917) tatsächlich einmal als Filmstatist betätigt hatte, wirkte an Eisensteins Streik-Film nur indirekt mit. Als der Produktionsstab nicht genügend Arbeiter für Massenszenen mobilisieren konnte, sorgte ein in unmittelbarer Nähe des Drehorts stattfindendes Trotzkij-Meeting für die gewünschte Zahl. Solche und ähnliche Umstände ließen bereits früher aufgetauchte Vermutungen von Eisensteins angeblichem Trotzkismus aufleben. Vermutungen, die sich zunächst auf seine freundschaftlichen Kontakten zu den Trotzkji nahen Künstlern Diego Rivera und Frida Kahlo während der Dreharbeiten zu Que viva Mexico 1931 stützten. Mit Diego Rivera, den Eisensteins bereits im November 1927 bei einem Empfang im Moskauer Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten kennen gelernt hatte, verband ihn allerdings vor allem die Nähe linksavantgardistischen Künstlertums. Aus ähnlichen Motiven traf er sich im Januar 1931 auch mit dem Maler David Alfredo Siqueiro, der am 24.Mai 1940 dann einen bewaffneten Überfall auf Trotzkijs Haus anführte.

Auf dem Höhepunkt der antitrotzkistischen Schauprozesse brachten Eisenstein 1937 seine Kontakte zu Rivera in eine überaus bedrohliche Lage. 1997 veröffentlichte der Moskauer Kulturhistoriker Leonid Maksimenko ein NKWD-Geheimdossier, das eine Denunziation des Regisseurs durch den damals in Moskau arbeitenden amerikanischen Journalisten Edmund Stevens enthielt. Der warf Eisenstein nicht nur Kontakte zu Rivera vor, sondern Beziehungen zu weiteren Trotzkisten in New York 1932 - etwa zu dem aus der Partei ausgeschlossenen Herbert Solo, der damals gerade Trotzkij im türkischen Exil besucht hatte. Ein junger Student namens John Hammond soll von Eisensteins wiederholten Sympathiebekundungen für Trotzkij berichtet haben. Der Denunziant Stevens verdingte sich nach 1945 übrigens als Lohnschreiber in McCarthys-Propagandamaschine und beklagte 1950 in seinem Buch This is Russia Eisenstein als Opfer der Stalinschen Zensurbürokratie. Den furchtbaren Folgen der Verleumdungen entging Eisenstein 1937 vermutlich nur, weil sein Gegenspieler, Stalins langjähriger Filmminister Boris Schumjatzkij, selbst ins NKWD-Visier geraten war und im Jahr darauf als angebliches Mitglied der "faschistischen Trotzkij-Bucharin-Rykov"-Bande hingerichtet wurde. Schumjatzkij, ein engstirniger Parteibürokrat, der auf ein propagandistisches Unterhaltungskino nach Hollywood-Vorbild setzte, hatte im April 1937 mit ideologischer Polemik das Verbot von Eisensteins bereits abgedrehtem Film Die Beshin-Wiese durchgesetzt. Auch nach Schumjatzkijs Verurteilung blieb das Verbot des später unter nicht geklärten Umständen vernichteten Filmes bestehen. Stalins Filmapparatschiks brachten Eisenstein zunehmend in Bedrängnis, was im Verbot des zweiten Teils von Iwan der Schreckliche gipfelte, einer historisch verkleideten Stalin-Kritik. Der Film erlebte seine Uraufführung erst im Tauwetter-Jahr 1958.

Eisenstein war kein Trotzkist, auch wenn ihn Trotzkijs Intellektualismus nicht unbeeindruckt ließ. Der Filmemacher verstand sich als Visionär einer sozialen und geistigen Weltveränderung und nicht als Parteigänger dieser oder jener Linie. Seinen Weg "durch Revolution zur Kunst, durch Kunst zur Revolution" ging er als Rebell gegen gesellschaftliche, künstlerische und intellektuelle Versteinerungen. Darin lag auch das Aufbegehren gegen den konservativ-zarentreuen Vater, einen "monumental-ornamentalen" Jugenstil-Architekten. Das wird in Potemkin anschaulich, wenn von den Schüssen des Panzerkreuzers die Jugendstil-Ornamente am Gebäude der zaristischen Admiralität zerstört werden. Der ornamentalen Kunst setzte Eisenstein die strukturelle Rationalität des Konstruktivismus entgegen, um dann die Wiederkehr des Bekämpften im Stalinschen Neoklassizismus erleben zu müssen, der Machtfassaden als Sichtblenden gegen die realen Skandale seiner Herrschaft errichtete. Revolutionärer Internationalist war Eisenstein in der Hoffnung auf eine neue Brüderlichkeit zwischen den Menschen: Panzerkreuzer Potemkin endet mit dem gegnerische Schiffsmannschaften vereinigenden Jubelschrei "Brüder!". In Oktober beginnt der Sieg über die Konterrevolution mit einer Verbrüderung tschetschenischer "Gottes-Krieger" und revolutionärer russischer Arbeiter. An den Schriften von Marx schätzte der Regisseur die emanzipatorische Dialektik, in die er den Zuschauer mit einer von James Joyce´ Ulysses inspirierten Komposition einüben wollte: 1927/28 plante Eisenstein eine Verfilmung des Marxschen Kapital, was Stalin höchst persönlich verbot. Es ist fraglich, ob Trotzkij in diesem Falle offener gewesen wäre, zumal er 1923 in Wodka, Kirche und Kino ein eher oberflächliches Filmverständnis demonstrierte.

Die aktuelle und keinesfalls nur filmspezifische Kraft und Kreativität von Eisensteins universell dialektischem Denken wird man entdecken, wenn die nach ihrer sowjetischen Tabuisierung jetzt vom Moskauer Filmmuseum herausgegebenen Theorie-Texte Eisensteins auch in deutscher Übersetzung erscheinen werden.

Der Autor war von 1986 bis 2002 Osteuropa-Experte der Berlinale und ist Mitarbeiter des Moskauer Filmfestivals. Er übersetzte und edierte die zwischen 1973 und 1984 bei Hanser erschienenen Schriften Eisensteins.


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