M an kann den Atomkern spalten und damit Energie freisetzen; zu CO₂-Emissionen führt das nicht. So viel ist selbstverständlich. Klar, der Betrieb von Uranminen oder der Kraftwerksbau, sogenannte „Vorleistungen“, führen zu Emissionen – im fossil dominierten Zeitalter ist das noch so. Doch für andere Formen der Kraft-Bereitstellung gilt das ebenso. So gesehen ist die Kernenergie in ihrem Klimaeffekt neutral.
Um ebendiese Feststellung aber wird erbittert gekämpft. Wozu das Ganze? Verständlich ist dieser Kampf nur vor dem geschichtlichen Hintergrund – die hitzige Debatte ist „pfadabhängig“. Verstehen lässt er sich zudem nur bei Einbettung in das, worum es konkret geht: um viel Geld.
Die Energie, die der Atomkern bei Spaltung freisetzt, ist unmoderiert explosiv – die „Kettenreaktion“ ist ein sich selbst verstärkender Prozess. Für die zivile Nutzung im Kraftwerk stand dessen „Zähmung“ an, die Verwandlung in einen stetigen Prozess der Stromgewinnung. Das gleicht dem Ritt auf dem Rücken eines Tigers. Wenn der Ritt schiefgeht, hat der Tiger zugeschlagen. Harrisburg, Greifswald, Tschernobyl und Fukushima sind es, die bislang als Beispiele und Menetekel vor Augen stehen.
Die Ambiguität von friedlicher und explosiver Nutzung ist der Kernenergie eingeschrieben. Atommächte brauchen die Kernenergie als „Dual Use“-Technologie, sie nutzen die zivile Verwendung als Rahmen für die militärische Bereithaltung von Sprengkörpern. Für die offiziellen Kernwaffenstaaten ist das offensichtlich.
Als „Deckung“ nutzen es diejenigen Staaten, die sich von dem Kalkül leiten lassen, diese Technologie zivil so weit zu entwickeln, dass im Krisenfall schnell ein autonomer Zugriff auf nukleare Sprengkörper erreichbar ist. Westdeutschland wollte das einmal so, hat inzwischen aber davon abgesehen. Japan, der Iran, Saudi-Arabien und Brasilien stehen noch heute für diese Strategie der zivilen Nutzung als Option einer militärischen Verwendung.
Die sogenannte „zivile“ Nutzung der Kernenergie hat nach 1955 einen sehr speziellen Pfad eingeschlagen. Aus einem kurzsichtigen Wirtschaftlichkeitskalkül heraus wurde sie auf den Pfad der Nutzung in thermischen Großkraftwerken gesetzt, die in bestehende Stromnetze einspeisen. Kernkraftwerke mit ihren hohen Investitionskosten und geringen Brennstoffkosten wurden als Strich fahrende „Grundlastkraftwerke“ konzipiert, in Konkurrenz zu Kohlekraftwerken. Mit deren Größenwachstum, um die Skaleneffekte abzuernten, wuchsen auch die Kernkraftwerke auf die heute übliche Monstergröße von 1.200 Megawatt. Die Gestalt der Stromnetze folgte dem. Zudem hat man die Option der „inhärent sicheren“ Reaktoren verworfen, hat sich entschieden, mit dem Leichtwasserreaktor einer durchgehfähigen Kraftwerkstechnologie den Markt zu öffnen.
Die EU ist gespalten
Dieses Katastrophen-Risiko erst machte die autonom-privatwirtschaftliche Nutzung der Technologie unmöglich. Der Staat half, er begrenzte die private Haftung. Das ist die entscheidende Subvention für diese Form der Kernkraftnutzung. Man blicke nach Japan, um Anschauung zur Risiko-Übernahme staatlicherseits zu haben.
Inzwischen haben Photovoltaik- und Windkraftwerke den Verbrennungskraftwerken ökonomisch den Rang abgelaufen, in Europa mit Unterstützung des Emissionshandels. Ihr Anteil wächst unaufhörlich. Im Einsatz geben Kleinkraftwerke den Ton an, dank des liberalisierten Strommarktdesigns ist die Hierarchie klar: Die Verbrennungskraftwerke haben die „Residuallast“ zu liefern. Die Kleinen zwingen die Großen, dynamisch Rampen rauf- und runterzufahren. Darauf sind die Alt-Kraftwerke kaum eingerichtet. Sie ächzen darüber, was ihnen im Alter zugemutet wird. Häufig zahlen sie lieber drauf, provozieren negative Preise, um bequem im vertrauten Grundlast-Modus verbleiben zu können. Da diese Misere für die „altvordere“ Kraftwerkstechnologie kurzfristig dem Strommarktdesign geschuldet ist, liegt es nahe, hier den Hebel anzusetzen. EU-intern hat sich eine Phalanx mit diesem Ziel gebildet.
Dass die Kernkraftwerke das Nachsehen haben, betrifft beziehungsweise belastet insbesondere die Stromwirtschaft in Frankreich (der Freitag 42/2021). Folglich übernahm Frankreich die Führung, mit im Boot sind Griechenland, Rumänien, Tschechien und Spanien. Deren Finanzminister haben aus Anlass des Euro-Gruppen-Treffens Anfang Oktober eine entsprechende Reform des Strommarktes gefordert. Genutzt wurde die Chance der gegenwärtigen Energiepreiskrise, die stark auf die Strompreise durchschlägt.
Die Europäische Union umfasst den alten Euratom-Vertrag. Der besagt, dass die Kernkraft zu fördern sei. Im Rahmen der sogenannten „Taxonomie“ steht gegenwärtig innerhalb der EU die Entscheidung an, ob die Kernenergie (zur Stromerzeugung) als würdig einzustufen ist, aus Klimaschutzmitteln der EU gefördert zu werden. Dazu ist EU-Europa gemäß der Ost-West-Linie gespalten, Frankreich und Finnland stehen an der Seite der östlichen Partner.
In Glasgow, bei der Weltklimakonferenz, geht es um das globale Ziel „Netto-Null“. Dazu müssen die Mitglieder der Staatengemeinschaft kooperieren. Gelingen kann das nur, wenn Vorreiter-Staaten mehr mindern wollen, als sie von eigenem Territorium aus können. Zum Ausgleich müssen sie importieren, entweder klimaneutrale Energieträger oder Kompensationszertifikate. Für die Eigenschaft „klimaneutral“ werden sie auch zahlen müssen. Also ist die Frage an die aktuelle Weltklimakonferenz, ob der Einsatz von Atomkraft in der Vorleistung von importierten Produkten bei „klimaneutral“ mitgezählt werden darf oder nicht. Die Antwort ist zig Milliarden wert.
Der Physiker Klaus Michael Meyer-Abich wies einmal darauf hin: Wenn wir den nächsten Krieg ausschließen können, kann man sich die Kernkraftwerke auch leisten. Als Leichtwasserreaktoren bedürfen AKWs zu ihrer Sicherheit eines funktionierenden Umfelds – verstehen lässt sich die Katastrophe von Fukushima ja nur vor dem Hintergrund des großflächigen Ausfalls externer Hilfsmöglichkeiten wegen der Tsunami-Zerstörung außerhalb des Kraftwerks. Die Welt, in die Europa eingebettet ist, marschiert stramm auf ein kriegerisches Austragen von Konflikten zu. Die USA stecken in dem Dilemma, dass sie ihre von Präsident Joe Biden erklärten Klimaziele nur erreichen können, wenn bestehende Kernkraftwerke mit ihrem bekannt niedrigen Sicherheitsniveau bei weit ausgedehnter Lebensdauer in Betrieb bleiben. Mit so anfälligen kritischen Infrastrukturen ist die westliche Welt ein leichtes Opfer für böswillige Gegner.
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