Trotz Sanktionen: Russlands Erlöse aus Energieexporten 2022 höher als im Vorjahr
Wirtschaftskrieg Die Sanktionen gegen Russland sind bislang ein sehr atavistisches Strafkonzept. Sie sind zu schlecht kalkuliert, um im Kreml ihre abschreckende Wirkung zu entfalten. Im Gegenteil: Der „Energiekrieg“ erweist sich für Russland als profitabel
Wäre Ihnen eine andere Bildunterschrift als „Der Rubel rollt“ eingefallen?
Foto: Manuel Augusto Moreno/Getty Images
Der stetige Aufwuchs russischer Truppen an den Grenzen zur Ukraine seit Februar 2021 führte im November dazu, dass der US-Geheimdienst öffentlich warnte, Moskau plane „eine Offensive an mehreren Fronten, früh im nächsten Jahr“. Die Gefahr eines Einmarsches stand im Raum. Vor diesem Hintergrund kam es am 7. Dezember 2021 zu einem zweistündigen Video-Gipfel von Wladimir Putin und Joe Biden. Das ließ hoffen. Beide hatten nach dem Amtsantritt des US-Präsidenten umgehend das New-START-Abkommen verlängert, sich im Sommer in Genf persönlich getroffen und einen „strategischen Dialog“ vereinbart, für den Arbeitsgruppen eingesetzt waren.
Das für die Frage Krieg oder Frieden vermutlich entscheidende Gespräch fand somit
fand somit in einem nicht a priori aussichtslosen Kontext statt. Der Kern des Austauschs wurde am Tage darauf von US-Sicherheitsberater Jake Sullivan so referiert: Putin habe verlässliche, rechtlich bindende Garantien verlangt gegen eine weitere Ausdehnung der NATO gen Osten, gegen das Dislozieren von Offensivwaffen in direkter Nachbarschaft zu Russland sowie gegen Versuche der Ukraine, gewaltsam die Gebiete zurückzuerobern, die sie 2014 an die von Russland unterstützten Separatisten verloren hatte.Russlands Präsident, so Sullivan, habe sich zudem beschwert, dass die NATO Anstalten mache – nun wörtlich, weil es hier um einen im Westen kaum reflektierten Sachverhalt geht –, „to develop Ukrainian territory“ (ukrainisches Territorium zu erschließen). Bruno Tertrais, Politologe am Institut Montaigne in Paris, brachte diesen bedrohlichen Umstand auf eine Sprachspiel-Formel, indem er fragte, was Russlands Militär mehr fürchte: „Ukraine in NATO or NATO in Ukraine?“ Gemeint waren Aktivitäten der US-Armee zur Ausrüstung und Schulung ukrainischer Streitkräfte, maßgeblich unterstützt von britischem wie kanadischem Militär, und das unabhängig von der Entscheidungslage im NATO-Rat. In der offiziellen US-Programmatik hieß es, dieses Engagement erfolge, „um der Ukraine zu helfen, ihre territoriale Integrität zu bewahren, ihre Grenzen zu sichern und die Interoperabilität mit der NATO zu verbessern“. Im Klartext: Es geht um Hilfe, Gebiete in der Ostukraine und die Krim zurückzuerobern.Der Ertrag dieser Kooperation lässt sich am bisherigen Kriegsverlauf ablesen. Ohne dieses Vorspiel, besonders bei der Zielplanung, wären die faktischen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte kaum vorstellbar. Vereinbart wurde zwischen Putin und Biden ein Dialog zu den „sicherheitspolitischen Grundlagen“ des Verhältnisses zwischen den USA sowie der NATO und Russland. Dazu legte Moskau alsbald Entwürfe für Abkommen vor, denen der Westen seine Vorstellung von einem „langfristigen Gesprächsprozess“ entgegensetzte, worauf sich der russische Staatschef mit seinen stehenden Truppen von geschätzt 170.000 Mann nicht einlassen wollte. Letztlich stand bei alldem außer Zweifel, dass der Westen den Einmarsch Russlands in die Ukraine gewärtigte. Ein Indiz dafür war, dass die USA am 12. Februar 2022 den Abzug ihres Botschaftspersonals aus Kiew verkündeten.Potemkinsches DorfUm Russland von einem Angriff abzuhalten, wurden nach dem Video-Gipfel die „Abschreckungsmittel“ auch in der Öffentlichkeit umfänglich kommuniziert. Der Katalog enthielt militärische Maßnahmen wie eine Aufstockung der US-Streitkräfte in Deutschland und an der NATO-Ostflanke, dazu ein weiteres Aufrüsten der Ukraine. Hauptsächlich aber wurde Russland ein massiver Wirtschaftskrieg angedroht. Ein Vorgang, der pionierhaft wirkte, denn erstmals verfolgte der Westen als kollektive Konfliktpartei ein solches Abschreckungskonzept. Es ging nicht auf, wie man heute weiß. Weshalb, wäre zu fragen, hat diese Form der Abschreckung versagt? War die Androhung glaubhaft, vor allem, war sie wirklich zur Abschreckung geeignet?Um einen Wirtschaftskrieg erfolgreich führen zu können, braucht es Vorbereitung, Institutionen und Professionalität. Ein Krieg ist der Einsatz von Zwangsmitteln, um einem Gegner seinen Willen aufzuzwingen. Er ist das Gegenteil von „Bestrafung“, was ein Zweck in sich ist. Die Mittel eines Wirtschaftskrieges müssen vorbereitet sein und zur Verfügung stehen. Ist das nicht der Fall, wird mit Waffen gedroht, die erst noch produziert werden müssen und von denen man nicht weiß, wozu sie taugen.Die USA sind in dieser Hinsicht seit Jahrzehnten entsprechend aufgestellt, was von Russland natürlich wahrgenommen wurde und dazu führte, dass es seine Verletzlichkeit verringerte. Die EU dagegen war Novize auf diesem Gebiet der Kriegsführung, wie sich bald schmerzlich zeigen sollte. Zu den in den Raum gestellten Maßnahmen zählten die Nichtinbetriebnahme der Pipeline „Nord Stream 2“ und Sanktionen gegen russische Banken, inklusive der Zentralbank, denen der Umtausch von Rubel in Dollar und andere Währungen versagt bleiben sollte. Auch ein Ausschluss aus dem Zahlungssystem SWIFT wurde angedroht. Nicht auf der Agenda stand ein Energiekrieg gegen Russland, obwohl klar sein musste, dass der in der Luft lag, sobald der Westen von dort bezogene Energieträger nicht adäquat honorierte. Die bloße Einzahlung auf gesperrte Zentralbankkonten, auf die Russland keinen Zugriff hatte – das konnte nicht funktionieren, das war keine angemessene Gegenleistung für den Öl- und Gasbezug.Ungeachtet dessen sanktionierten die Europäer direkt nach dem 24. Februar 2022 die Zentralbank sowie andere russische Geldinstitute. Das betraf Geldmengen von beispiellosem Umfang. Zugleich wurde eine erste Salve personenbezogener Sanktionen abgefeuert, deren Wirkungsgrad sich in Grenzen hielt. Ohnehin war Deutschland noch im Herbst 2022 mit der Beschlussfassung zum „Sanktionsdurchsetzungsgesetz II“ befasst, um die Ende Februar beschlossenen Sanktionen auch vollziehen zu können. Angesichts einer so wenig substanziellen „Drohung“ konnte es nicht verwundern, dass sich daraus keine hinreichende Abschreckungswirkung ergab. Die angedrohten Sanktionen gegen Putins Unterstützer waren ein Potemkinsches Dorf, das von Moskau umgehend als solches erkannt wurde.So war am Morgen des 24. Februar 2022 klar: Die Abschreckung durch Androhung eines Wirtschaftskrieges unbekannten Ausmaßes war ebenso gescheitert, wie Russlands Blitzkrieg-Konzept gegen die Regierungszentrale in Kiew scheitern sollte. Danach schnürten die Europäer zwar ein Sanktionspaket nach dem anderen, doch blieb fraglich, ob damit ein durchdachtes Konzept der Kriegsführung oder lediglich ein atavistisches Bestrafungsritual zum Zug kam. Parallel dazu wurde in den Medien verbreitet, welche hohen Einnahmen Russland erzielte, indem es Steinkohle, Erdöl und -gas an europäische Abnehmer lieferte, und welche Bedeutung das für den russischen Staatshaushalt habe.Die Option stand im Raum: Kappen die Europäer diese Bezüge, dann erhält der Kreml weniger Geld, um seinen Krieg zu finanzieren. Also wurde – ohne dies von seinen Konsequenzen her durchzukalkulieren – Russland der Energiekrieg erklärt, indem die EU Anfang April ein Importembargo gegen Kohle erklärte, das Ursula von der Leyen bei ihrem Kiew-Besuch nach den Kriegsverbrechen von Butscha ankündigte. Anfang Mai folgte ein Öl-Embargo. Bei Gas kam es zu einem Flickenteppich, weil die EU-Staaten sich nicht auf ein einheitliches Vorgehen einigen konnten. So eröffneten die Europäer eine Front, bei der sie schnell in Bedrängnis gerieten. Sie hatte dem Feind ihre verletzlichste Stelle präsentiert.Um ein Drittel mehr ErlöseMan war wohl erfolgreich darin, die Energieimporte aus Russland stark zurückzufahren, bei Pipeline-Gas unfreiwillig, da mit russischer Hilfe. Doch musste zum Ausgleich anderswo zugekauft werden, sodass bei der herrschenden Verknappung auf den Weltmärkten die Preise heftig gestiegen sind. Dass weder die USA noch die OPEC+ ihre Produktion ausweiten wollten, war dafür ein relevanter Faktor. Im Ergebnis verblieben Russlands Erträge aus dem Verkauf von Energieträgern an europäische Staaten in etwa auf dem gleichen Niveau wie im Jahr vor dem Krieg. Global gesehen werden dessen Erlöse aus Energieexporten im Jahr 2022, so aktuelle Schätzungen, auf 338 Milliarden Dollar wachsen. Das wäre um ein Drittel mehr als im Jahr zuvor. Mit anderen Worten, dass die EU einen Energiekrieg gegen Russland initiiert hat, erwies sich für Russland als höchst profitabel.Professionelle Strategen würden in solcher Lage erwägen, die Front zurückzunehmen und einen mit Irrtümern behafteten Vorstoß aufzugeben. Da die EU im Energiekrieg aber moralische Kategorien bevorzugt, nicht etwa professionelle, scheint das einstweilen keine Option zu sein. Eine Rücknahme käme dem Erlass einer Strafe gleich. Das ist nicht vorgesehen.Placeholder infobox-1