Im Krieg um die Ukraine kam es bisher zu zwei Anläufen, in Verhandlungen einzutreten. Einen ersten Versuch gab es gleich nach Kriegsbeginn am 24. Februar. Niedergeschlagen haben sich ukrainisch-russische Sondierungen im Istanbuler Kommuniqué vom 29. März 2022, ohne dass sich darin ein Verhandlungsabschluss mit einem greifbaren Resultat wie einer Feuerpause findet.
Ein zweiter Anlauf galt dem Abtransport von Getreide und Düngemitteln aus ukrainischen Häfen, die sogenannte Black Sea Grain Initiative. Sie begann am 7. Juni 2022 mit einem Treffen der Verteidigungsminister der Türkei und Russlands, die sich über einen Getreide-Export-Korridor aus der Ukraine verständigten. Erfolg war diesen Verhandlungen insofern beschieden, als am 22. Juli 2022 ein Abkomm
ein Abkommen – überschrieben mit „Initiative on the Safe Transportation of Grain and Foodstuffs from Ukrainian ports“ – geschlossen wurde. Es bezog sich auf die „Ausfuhr von Getreide und verwandten Lebensmitteln sowie Düngemitteln“.Dabei stand die Black Sea Grain Initiative von Anfang an unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, die selbst ein Signatar des Abkommens waren. UN-Generalsekretär António Guterres wollte so eine schwelende Welternährungskrise eindämmen, die durch ausfallende Lieferungen aus der Ukraine wie Russland sowie einen Preisschub auf dem Weltmarkt verschärft wurde. Wegen dieser dramatischen Entwicklung hatte Guterres bereits am 26. April mit Wladimir Putin und dieser wiederum am 3. Juni mit Macky Sall, dem Präsidenten Senegals und Vorsitzenden der Afrikanischen Union (AU), gesprochen.Zweiter Teil des Getreide-Deals mit Russland: Lockerung von SanktionenNicht in formeller Hinsicht, aber faktisch gehört zum Schwarzmeer-Abkommen eine zweite Übereinkunft, die zeitgleich geschlossen und von den UN ebenfalls am 22. Juli 2022 öffentlich gemacht wurde. Es sollte die gegenseitige Bedingtheit beider Kontrakte zum Ausdruck gebracht werden durch die Erklärung: „Mit der Russischen Föderation wurde zugleich eine Einigung über den Umfang des Engagements der Vereinten Nationen erzielt, um den ungehinderten Export von russischen Lebens- und Düngemitteln auf die Weltmärkte zu erleichtern, einschließlich der für die Herstellung von Düngemitteln erforderlichen Rohstoffe. Dieses Abkommen beruht auf dem Grundsatz, dass Maßnahmen, die der Russischen Föderation auferlegt werden, für diese Produkte nicht gelten. Gleichzeitig hat sich die Russische Föderation verpflichtet, den ungehinderten Export von Lebensmitteln, Sonnenblumenöl und Düngemitteln aus den von der Ukraine kontrollierten Schwarzmeerhäfen zu erleichtern.“Der zweite Satz weist darauf hin, dass die Sanktionen des Westens gegen Russland bei den erwähnten Produkten ausgesetzt werden sollten. Bisher jedoch kann davon keine Rede sein. Nach wie vor gilt, dass diese seegestützten Exporte Russlands, besonders die an Düngemitteln, wegen der Sanktionspraxis des Westens nicht zustande kommen. Ein Spezialfall scheint die Ausfuhr russischen Ammoniaks vom Hafen Odessa aus zu sein, das dort per Pipeline angeliefert wird.Aufschlussreich ist wieder einmal, dass dieser „Wie du mir, so ich dir“-Zusammenhang in der westlichen Berichterstattung so gut wie nie vorkommt, obwohl der UN-Generalsekretär nicht müde wird, dieses Junktim zu betonen. Er selbst will die Verpflichtung einlösen, die er Russland gegenüber eingegangen ist, damit die Black Sea Grain Initiative überhaupt möglich wurde.Bekanntlich läuft das Schwarzmeer-Abkommen Mitte November aus und soll verlängert werden. Um das zu bewirken, müssten auch die gegenüber Russland getroffenen Zusagen mit Leben erfüllt werden, wozu der Verzicht des Westens auf die asymmetrische Berichterstattung zur Black Sea Grain Initiative ein Beitrag sein könnte. Hält man sich an die bisherige Darstellung, werden darin die Verpflichtungen gegenüber Russland bestenfalls angedeutet. Beim Treffen der G7-Außenminister jüngst in Münster ist das in exemplarischer Weise erfolgt. Was dort erklärt wurde, liest sich wie folgt. „Wir unterstützen den Aufruf des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zur Verlängerung des Schwarzmeer-Abkommens über die Ausfuhr von Getreide, durch das die weltweiten Lebensmittelpreise gesenkt wurden. Wir rufen Russland mit Nachdruck auf, dem Appell des Generalsekretärs nachzukommen.“Getreide-Abkommen: Auch Westen muss Zusagen einhaltenEine einseitige Zuweisung von Verantwortung, bei der verschwiegen wird, dass es um eine Verhandlungssituation geht, in der auch der Westen zu liefern hat. In einem Nachsatz wird das in einer Weise angesprochen, dass nur Insider den Zusammenhang zu erahnen vermögen. Es heißt da: „Wir beschleunigen (...) unsere Bemühungen, damit Düngemittel zu den Schwächsten gelangen können.“ Aufgabe eines qualifizierten Journalismus in Deutschland, der die Vertragstexte und den Kontext selbstverständlich kennt, sollte es sein, diesen Informationsnebel für das deutsche Publikum zu durchbrechen. Warum geschieht das nicht? Dies zu erfahren, wäre mehr als wünschenswert.Wegen der sich häufenden Komplikationen bei der Black Sea Grain Initiative gab es am 13. September ein Telefonat zwischen Präsident Putin und Kanzler Olaf Scholz. Die von der Universität Bremen herausgegebene Zeitschrift Russland-Analysen hat die offiziellen Verlautbarungen beider Seiten dazu verglichen. Der Schlüsselbegriff lautet „vollständige Umsetzung“, nur wird durch die Pressestelle des Bundeskanzleramts mit keiner Silbe erwähnt, dass das Schwarzmeer-Abkommen Teil eines umfassenderen Deals ist, der bisher nicht „vollständig“ umgesetzt wurde. Grund für diese verkürzende Darstellung ist vermutlich das taktische Verhalten einer Regierungsstelle im hybriden Informationskrieg gegen Russland. Das eigentliche Phänomen aber besteht darin, dass deutsche Medien dieser verkürzten Darstellung eines komplexen Vertragswerkes unisono folgen.Völlig unberücksichtigt blieb, was der Kreml über den Meinungsaustausch Scholz-Putin veröffentlicht hat. In dessen Verlautbarung heißt es, Putin habe darauf verwiesen, das Abkommen sei „als Paket abgeschlossen“ worden, und seine Sorge erläutert „hinsichtlich der unausgewogenen geografischen Verteilung der per Schiff erfolgenden ukrainischen Getreidelieferungen, von denen nur ein unbedeutender Teil in Länder gelangt, die sie am meisten benötigen“. Zugleich gäbe es „keine Bewegung bei der Beseitigung von Barrieren auf den Exportwegen für russische Lebens- und Düngemittel“. Die russische Seite sei bereit, „große Mengen Getreide auf externe Märkte zu liefern und zudem bedürftigen Ländern kostenlos die Düngemittel zu überlassen, die in europäischen Häfen festgesetzt wurden“. Davon in Deutschland kein Wort.Offenbar wurde Vorsorge getroffen, dass bei einem Scheitern des Getreide-Abkommens die deutsche Öffentlichkeit eine destruktive Willkür Russlands dafür verantwortlich macht und nicht den misslungenen Ausgleich beiderseits legitimer Interessen. Für den Hunger in der Welt allerdings ist „präventive Schuldzuweisung“ ziemlich unerheblich.