Menschenrechte sind Rechte, die jedem Menschen ungeachtet all seiner sonstigen Eigenschaften allein kraft seines Menschseins zukommen (sollen). Dies ist ein einfacher und verständlicher, aber kein selbstverständlicher Satz. Das Verständnis der als „Menschenrechte“ bezeichneten moralischen Ansprüche und Rechtsnormen ist in einem solchen Maße von Voraussetzungen abhängig, dass eine allgemein akzeptierte theoretische Definition weder existiert noch erwartet werden kann. Was Menschenrechte sein sollen, ist sowohl auf der Ebene moralischer Überzeugungen als auch auf der Ebene ethischer und rechtsphilosophischer Begründung strittig. Doch was Menschenrechte sind, ist im internationalen positiven Recht definiert.
Dies schließt freilich kontroverse Debatten nicht aus: Welcher Begriff des Menschen wird zu Grunde gelegt? Welcher Begriff von Rechten ist grundlegend? Von wem, mit welcher Legitimation und wie soll das, was den Menschen „zukommen soll“, als positives internationales, transnationales und nationales Recht durchgesetzt werden? Soziale, politische und kulturelle Interessen bilden Kontexte der Antworten. Die gegenwärtig besonders heiß umstrittene Frage lautet: Sind die Menschenrechte universalisierbar und sind sie unabhängig von Kulturen universell?
Kann man Menschenrechte verallgemeinern?
Bei der Antwort auf diese Frage sind zwei wesentliche Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen, dass Menschenrechtsansprüche aus geschichtlicher Unrechtserfahrung entstanden sind: in Revolutionen eingeklagt oder unter dem Eindruck der Verbrechen des Nationalsozialismus, Faschismus, Militarismus und Stalinismus formuliert. Diese Menschenrechtsansprüche beziehen sich auf die Menschenwürde, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit aller Menschen; sie sind gerichtet auf weltbürgerrechtliche Lebensverhältnisse ohne Krieg, Unterdrückung, Hunger und Not.
Zum anderen haben Menschenrechte einen moralischen Inhalt, der aber ohne ihre positiv-rechtliche Form nicht verwirklicht werden könnte. Sie begründen Ansprüche gegenüber nichtstaatlicher – vor allem ökonomischer – Gewalt und gegenüber den Staaten, deren Rechtssysteme im Interesse bestmöglicher Grundrechteverwirklichung auf den je höchsten Entwicklungsstand der Menschenrechte verpflichtet sind.
Neuere Menschenrechtserklärungen betonen zunehmend die Bedingungen der Realisierbarkeit der Menschenrechte. So heißt es im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, „dass im Einklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Ideal freier Menschen, die frei von Furcht und Not sind, nur erreicht werden kann, wenn Verhältnisse geschaffen werden, unter denen jeder seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sowie seine politischen und Bürgerrechte genießen kann.“ Deshalb ist die Verwirklichung von Gerechtigkeit durch die soziale Gestaltung der Demokratie Menschenrechtsverwirklichung.
Menschenrechte sind heute keine Utopie und nicht länger Gegenstand von moralischen Appellen; sie sind Rechte, die vor Menschenrechts-Institutionen und -Gerichtshöfen einklagbar sind. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es, es sei „notwendig [...], die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen“. Warum? Weil sie sich nicht aus eigener Kraft verwirklichen, sondern verletzt wurden und werden. Menschenrechte sind das Ergebnis von Unrechtserfahrung.
Das internationale Recht der Menschenrechte ist zwingendes Recht (jus cogens) gegenüber allen (erga omnes). Es verbietet nach Auffassung der UN-Völkerrechtskommission von 2001 Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Angriffskriege, Versklavung, Folter, Rassendiskriminierung und Apartheid; es gebietet Grundnormen des humanitären Völkerrechts und das Recht auf Selbstbestimmung. Die Rechte müssen durch Staaten oder Staatengemeinschaften geschützt werden. Nie ist garantiert, dass Staaten sie wirklich schützen. Aber der Ruf nach „weniger Staat“ entspricht nur unter totalitären Bedingungen dem Bedürfnis nach Durchsetzung der Menschenrechte.
In der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit verbinden sich die Menschenrechte mit unterschiedlichen Rechtskulturen und konkurrierenden sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Bedürfnissen. Dies ist einer der Gründe dafür, dass die Frage nach ihrer Universalisierbarkeit bzw. Universalität im Zentrum kontroverser Menschenrechtsdiskurse steht. Der „Westen“, bzw. der „Norden“ klage in liberalistischer Perspektive die Rechte und die Freiheiten des Individuums ein, während der „Süden“ und der „Osten“ mit kommunitaristischer Orientierung die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft betone. Deshalb seien die im „Abendland“ entstandenen Menschenrechte für nicht-westliche Kulturen nicht geeignet.
Sind Menschenrechte weiß, europäisch und männlich?
Sind die Menschenrechte „weiß, europäisch und männlich“? Diese kulturrelativistische These verwechselt die abendländische Herkunft der Menschenrechte mit ihrer Geltung, die darauf beruht, dass sie zwischen Staaten – nicht ohne Einfluss der Zivilgesellschaften – ausgehandelt wurden. Die (Selbst-)Kritik der Menschenrechte als „westlich“, die oft mit zynisch-resignativem „Lob der Differenzen“ verbunden ist, spielt herrschenden, Menschenrechte verletzenden Machteliten in die Hände.
Das Universalitätsproblem wird oft auf ein Kulturenproblem verkürzt. Es geht aber auch um die Universalität der Normadressaten: Bei der Frage, wer Menschenrechtsverletzungen begeht und gegen wen rechtlich eingeschritten werden soll, darf der Kreis der Norm- und Sanktionsadressaten nicht auf Staaten, Institutionen, Offizielle, Funktionsträger und autorisierte Personen eingeschränkt werden. Die Menschenrechte verpflichten auch die privaten Individuen. Wer foltert, macht sich schuldig und kann sich nicht auf Befehlsnotstand berufen.
Die Menschenrechte haben als Rechtsnormen Drittwirkung: Sie entfalten ihre Schutzwirkung nicht nur im Verhältnis zwischen Bürger und Staat, sondern auch im Verhältnis zwischen Bürgern; sie begründen unmittelbar Pflichten für Private. Dies liegt ebenso in der Logik ihrer Universalität wie der Aspekt der transkulturellen rechtlichen Universalität: Die Geltung der menschenrechtlichen jus cogens-Normen erga omnes ist un-bedingt und lässt keine Relativierung im Namen der Eigenrechte von Kulturen zu.
Es gibt allerdings Unterschiede bezüglich der Rahmenbedingungen institutioneller Menschenrechtsverletzungen:
Erstens, Verletzungen trotz „eigentlicher“ politisch-rechtlicher Anerkennung des universalen Normensystem. Hier müssen wir auch vor der eigenen Tür kehren: Hartz IV verletzt die Würde und Rechte, wenn beispielsweise Familien mangels Mittel nicht gleichberechtigt am kulturellen Leben teilnehmen können.
Zweitens, Verletzungen, die durch eine offen erklärte, teils kulturalistisch, teils gesellschaftspolitisch begründete Absage an die Verpflichtung zum Schutz der Menschenrechte in ihrer Gesamtheit legitimiert werden; ein Beispiel hierfür ist die Volksrepublik China, in der ökonomischen und sozialen Menschenrechten ein Vorrang vor den politischen Menschenrechten eingeräumt werden soll. Ein zweites Beispiel ist die afrikanische Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker von 1981, die – dem Programm der „Austreibung der kolonialen Mentalität aus den Begriffen“ entsprechend – den traditionellen Gewohnheitsrechten der Gemeinschaften und „afrikanischen Traditionen“ Vorrang vor den Individualrechten einräumt. Ein Afrikanischer Menschenrechtsgerichtshof wurde lange Zeit mit dem Argument abgelehnt, dass gerichtliche Streitbeilegung nicht dem afrikanischen, auf Konsensfindung beruhenden Rechtsverständnis entspreche; er wurde erst 1998 eingerichtet, hat aber bisher nicht ein einziges Urteil verkündet.
Schließlich gibt es Verletzungen, für die religiös beziehungsweise ideologisch motivierte „Menschenrechtserklärungen“ eine fragwürdige Grundlage schaffen – insbesondere arabisch-islamische; sie richten sich gegen die rechtliche Universalität der Menschenrechte. Ein Missverständnis sei vorab ausgeräumt: Diese Erklärungen gründen in konservativen, in den betreffenden Ländern keineswegs allgemein geteilten Islam-Interpretationen; sie spiegeln Herrschaftsinteressen autoritärer Staaten, nicht aber demokratischen Konsens.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1981 geht von der Fiktion aus, schon „vor 14 Jahrhunderten habe der Islam die ‚Menschenrechte‘ umfassend und tiefgründend als Gesetz festgelegt“. Die Erklärung entspricht der „für die Muslime“ geltenden „Pflicht, alle Menschen vom Aufruf zum Islam in Kenntnis zu setzen, im Gehorsam gegenüber dem Auftrag ihres Herrn“. Diese Erklärung reklamiert den besonderen Auftrag des Islam in „Erfüllung des Rechts der Menschheit gegen sie als aufrichtiger Beitrag zur Rettung der Welt aus allen Übeln, die sie befallen haben“. Sie geht aus von der „vorbehaltslosen Anerkennung der Tatsache, dass der menschliche Verstand unfähig ist, ohne die Führung und Offenbarung Gottes den bestgeeigneten Weg des Lebens zu beschreiten“. Gefordert wird eine „Gesellschaft, in der die Macht ein dem Herrscher auferlegtes anvertrautes Gut ist, damit er die Ziele, die die šarî’a vorschreibt, auf die Weise, die sie festlegte, verwirklicht“.
Dementsprechend werden alle Rechte unter den Vorbehalt der Scharia gestellt, d.h. des allgemeinen islamischen religiösen Normen- und Wertesystems. Artikel 1: „Das Leben des Menschen ist geheiligt. Niemand darf es verletzen [...] Diese Heiligkeit kann nur durch die Macht der šarî’a und durch die von ihr zugestandenen Verfahrensweisen angetastet werden.“ Artikel 12: „Das Recht auf Gedanken-, Glaubens- und Redefreiheit: a) Jeder kann denken, glauben und zum Ausdruck bringen, was er denkt und glaubt, […] solange er innerhalb der allgemeinen Grenzen, die die šarî’a vorschreibt, bleibt.“ Die Folgen dieser Unterordnung der Menschenrechte unter die Scharia vor allem für die Frauenrechte sind bekannt.
Schutz von Menschenrechten gelingt nur in Demokratien
Noch in der Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam von 1990 heißt es in Artikel 25: „Die islamische Scharia ist der einzige Bezugspunkt für die Erklärung oder Erläuterung eines jeden Artikels in dieser Erklärung.“ Auch die vom Rat der Liga der arabischen Staaten am 15. September 1994 verabschiedete Arabische Charta der Menschenrechte bekräftigt die anti-universalistische Tendenz der autoritären Umdeutung der Menschenrechte, „ausgehend vom Glauben der arabischen Nation an die menschliche Würde, seit Gott die arabische Heimat auszeichnete, indem er sie zur Wiege der Religionen und Heimstätte der Kulturen machte, wodurch ihr Recht auf ein würdevolles Leben auf der Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens bekräftigt wurde, in Verwirklichung der unvergänglichen Grundsätze der Brüderlichkeit und der Gleichheit aller Menschen, die in der islamischen Scharia und in den anderen Religionen der göttlichen Offenbarung festgeschrieben sind“.
Der Anspruch auf „Eigenrechte der Kulturen“ führt bei kulturrelativistischer Interpretation zu einer Schwächung des internationalen Menschenrechte-Rechts und zu Rechtsrelativismus. Meine These ist: Der Schutz der Menschenrechte setzt in allen Kulturen den Staat als demokratischen, menschenrechtlich verfassten Rechts- und Sozialstaat voraus, die Beherrschung nichtstaatlicher Gewalt durch das Recht und transnationale Gerechtigkeit.
Hans Jörg Sandkühler leitet die Deutsche Abteilung Menschenrechte und Kulturen des UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie in Paris und hat kürzlich Menschenrechte in die Zukunft denken (Nomos Verlag 2009) herausgegeben. Im Herbst erscheint die dreibändige Neuauflage der von ihm herausgegebenen Enzyklopädie Philosophie im Felix Meiner Verlag.
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