Nur ein Stück Würfelzucker im Kaffee

Die Tschechen und die EU Der Staatspräsident ist ein EU-Skeptiker und die Bevölkerung eher desinteressiert - nun hat Tschechien auch noch die EU-Ratspräsidentschaft. Ein Stimmungsbericht.

Zuzana macht das geschickt: Aus einer winzigen Küche bugsiert sie vier Tassen mit köstlichem dicken Gulasch und frischem Brot durch den hoffnungslos überfüllten Gastraum. Die Leute sitzen oder stehen dicht an dicht, die Luft ist dank des Zigarettenqualms zum Schneiden. In Kneipen wie dem Ausgeschossenen Auge im Prager Szeneviertel Zizkov wird wie selbstverständlich geraucht. „Das lassen wir uns von Europa nicht nehmen“, grinsen Milos und Petr, beide groß und breit wie Schränke. Martin Savlicek, der Wirt, kommt kaum nach, die Aschenbecher zu leeren.

Das Ausgeschossene Auge hat seinen Namen dem böhmischen Heerführer Jan Zizka zu verdanken. Er verlor in den Hussitenkriegen Mitte des 15. Jahrhunderts sein Augenlicht, verhalf einem ganzen Stadtteil zu einem Namen und war mit seinem Schicksal der Namenspate für diese Kneipe, die eine ganz besondere auch für Prager Verhältnisse ist. Dort haben die Zizkover Karnevalisten ihre Heimstatt, außerdem diente das Etablissement wiederholt als dekorative Filmkulisse. Die Getränkekarte hält „Absinth für Abstinenzler“ bereit oder „künstlichen Rum“. Auf dem Tresen steht ein großes gläsernes Gefäß mit in Essig und Öl eingelegtem Camembert. „Das ist speziell für Hygienekontrollen“, weiß Libuse, eine aus Mähren zugezogene Finanzberaterin, die zu den Stammgästen gehört. „Der Camembert stammt aus einem Supermarkt und wird nicht wirklich verkauft. Zuzana bereitet alle Speisen zu Hause zu und bringt sie jeden Tag in die Kneipe mit. Damit umgeht sie die Hygienevorschriften der EU.“ Die besagen unter anderem, dass ein in der Kneipe zubereiteter Gulasch nach vier Stunden weggeschüttet werden muss, obwohl jeder weiß, dass gerade dieses Gericht erst richtig schmeckt, wenn es ordentlich durchgezogen ist. Schwejk lässt grüßen.

Als Tschechien 2004 der EU beitrat und damit auch die Brüsseler Regularien zu übernehmen hatte, liefen die Kneipen-Wirte Sturm. So viel geballten kulinarischen Unverstand wollten sie nicht hinnehmen. Die damaligen tschechischen Spitzenpolitiker, die dem zustimmten, haben in Prager Wirtshäusern bis heute Hausverbot. Für einen gilt das nicht: den einstigen Präsidenten Vaclav Havel. Von ihm hängt sogar ein Bild im Ausgeschossenen Auge. Havel hat hier häufig sein Pilsner getrunken, auch mit Lida, der weiblichen Ikone des tschechischen Journalismus, als die ihren 50. Geburtstag feierte.

Auf die Frage, warum die Tschechen so EU-skeptisch seien, antwortet Lida: „Es liegt am Komplex, den wir gegenüber den Deutschen haben. Die Tschechen fühlen sich neben den Deutschen klein, kleiner, am kleinsten.“ Leider sei die Angst vor einer von Berlin aus beherrschten EU „genetisch codiert“, man erinnere sich eben noch immer schnell an die dunklen Seiten der Geschichte. Dass die übergroße Mehrheit der Tschechen sich weder für die EU-Ratspräsidentschaft noch für den heiß umstrittenen Reformvertrag von Lissabon interessiert, wundert Lida nicht. „Wir haben ein Haus im Bayerischen Wald und stellen dort immer wieder fest: Die Deutschen beschäftigen sich ebenso wenig mit der EU wie die Tschechen.“ Ob Präsident Klaus eine Belastung für die tschechische Präsidentschaft werden könne? Lida meint: „Wenn der Westen jede Äußerung von ihm auf die Titelseiten der Zeitungen hebt, dann hat er sein Ziel erreicht. Mit Sicherheit wird er keine Gelegenheit auslassen, seine nicht einmal im eigenen Land mehrheitsfähigen Standpunkte der Welt kundzutun.“

Auch der Stammtisch im Ausgeschossene Auge spekuliert, warum der Präsident auf der Prager Burg so ist, wie er ist. „Er scheint mir schlicht eitel zu sein“, murmelt Zdenek an seiner Pfeife vorbei und winkt mit beiden Händen widerwillig ab. „Was hat er seinerzeit gesagt? Er wolle nicht, dass der tschechische Würfelzucker in einem Kaffee so einfach aufgelöst werde. Eigentlich meinte er damals sich und die Angst vor seiner eigenen eventuellen Bedeutungslosigkeit.“ – „Unsinn, er vertritt nur unsere nationalen Interessen“, meldet sich Milos zu Wort. Wirt Martin nimmt kurz nach Mitternacht die letzten Bierbestellungen auf. Zuzana hat ihre leeren Töpfe abgewaschen und in diversen Plastiktüten verstaut. „Vielleicht“, so Savlicek, „kommt ja im nächsten halben Jahr mal der Barroso bei mir auf ein Bier vorbei. Aber erkennen wird ihn wohl kaum jemand. Es sei denn, er hat Vaclav Havel dabei.“

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