Ich pack das Weiß hier nicht

GEDANKENSCHLÄGEREIEN IM KOPF Posthume Korrespondenzen in Rolf-Dieter Brinkmanns »Briefen an Hartmut«

Das Foto von Isolde Ohlbaum zeigt zwei Männer auf dem Gipfel eines Berges. Beide präsentieren der Fotografin jeweils ein Portrait, das wiederum den Kopf eines Mannes darstellt. Der eine hat den Mont Ventoux als einer der ersten im 14. Jahrhundert an einem Tag erstiegen und darüber später einen fiktiven Brief geschrieben. Der andere gelangt nur posthum im Jahre 1975 als erster Petrarca-Preisträger auf den provenzalischen Olymp.

Ein anderer Dichter hat sich als Bettelmönch in China im 7. Jahrhundert auf einen Berg zurückgezogen, den Namen des Berges als den eigenen angenommen und seine Gedichte an die Felswände geschrieben. Han Shan (»Kalter Berg«) erfüllt in seiner bewußt gewählten Randexistenz ein poetisches Programm: sich seine eigene Biografie zu erfinden, indem der Name des Dichters und der Ort des Dichtens gemeinsam Identität stiften, eine flüchtige immerhin, eine des Moments, wie sie Rolf Dieter Brinkmann in seinen kurzen intensiven und exzessiven, anarchisch-radikalen, haßerfüllten und zärtlich-zerbrechlichen Annäherungen erreicht hat.

In den Briefen an Hartmut, die fast ein Vierteljahrhundert nach Brinkmanns Unfalltod am 23. 4. 1975 in den Straßen Londons jetzt bei Rowohlt vorliegen, treffen wir auf Nachrichten und Selbstauskünfte eines irritierten Ich, das sich schreibend seiner selbst vergewissert, in dem es Abstand gewinnt zu den bedrückenden Kölner Alltagserfahrungen und durch das schreibende Flanieren, ohne Ruhe, ohne Übersicht, eine Offenheit des Textes und des Ich gegen die Geschlossenheit der Stadt und der Gesellschaft verteidigt. Hier ballt sich Brinkmanns Verneinungsenergie, die Lust am Zerreißen und Collagieren als ein Potential, in dem Aufbrechen doppeldeutig als Wegrichtung, die durchaus mit Galgenhumor zivilisationskritisch auch westwärts gerichtet sein kann, aber auch auf die in freie poetische Verfügbarkeit versetzten Bruchstücke und Fetzen der Wirklichkeitserfahrung verweisen kann.

Als Gegenbilder dazu fungieren Brinkmanns noch frische Erinnerungen an seine Gastdozentur in Austin/Texas. Hier lernt er den Germanistikstudenten Hartmut Schnell kennen, der erst eine Arbeit über den expressionistischen Großstadtdichter Alfred Lichtenstein plant, dann aber eine über Brinkmanns Lyrik, die er ins Amerikanische übersetzen und mit einem einleitenden Essay versehen wird. Nach der Rückkehr nach Köln schreibt Brinkmann dann bis kurz vor seinem Tod eine Reihe von zum Teil marathonlangen Briefen an den amerikanischen Freund, ein zurück- und vorausblickendes vitales Werkstattgespräch, das auch zur Befeuerung des offenbar an Schreibhemmungen leidenden Adressaten dient. Brinkmann rät zu lockerer, lebendiger und subjektiver Prosa, die nicht vor dem Fingieren von Zitaten haltmacht und damit dem Poetischen auch in der Wissenschaft alle Türen öffnet. In den »Briefen an Hartmut« spielt Brinkmann immer wieder die bundesrepublikanische Enge gegen die nordamerikanische Weite aus: ein Gegensatz übrigens, der sich für ihn auch in den Landessprachen zeigt. Während die deutsche Sprache von Todesmetaphorik durchtränkt ist, erschließt das direkte offene und selbstbewußte Amerikanisch dem Bewußtsein und der Wahrnehmung neue begehbare Räume. Das zeigt auch Brinkmanns Anknüpfung an Autoren wie Williams Carlos Williams, Robert Creeley und Frank O'Hara, sowie sein skeptisch-euphorisches Beat- und Rock'n'Roll-, sein kräftiges Bluesgefühl.

Brinkmanns Briefe lassen sich auch als ein intimes Tagebuch lesen, das den Fixpunkt für die poetischen Erkundigungen und Reflexionen umkreist und aus einer Offenheit und Rigorosität wie in den Essais von Montaigne ein schonungsloses Sich-Preisgeben des Ich erreicht. Hier wird auch Han Shan zur Heimat und zum Echo des Kölner Dichters, der mit seiner Frau Maleen und dem Sohn Robert in der Engelbertstr. 65 lebte, ständig in finanzieller Not und räumlicher Enge, als einzigen Lichtblick die Arbeit an seinem neuen Gedichtband Westwärts 12, auf den Brinkmann auch wegen der eingefügten Fotosequenzen sehr stolz ist, der aber erst kurz nach seinem Tod erscheinen wird.

»Wenn man nachts allein in einem Zimmer sitzt, Schallplattenmusik an, ringsum ziviehlationswüste, ist das beinahe wie auf einem ›kalten Berg‹ allein zu leben, in dieser Art der Umgebung, in einer Seitenstraße der Innenstadt.« Und an anderer Stelle spielt Brinkmann auf ein ausnahmsweise stilles Bild aus seiner Villa Massimo-Zeit in Rom an, wo er in den Bergen von Olevano nachts durch die offene Toilettentür auf den schneebedeckten Berg schaut und mit seinen Gedanken herumwandert, mit dem Blick herumschweift. Das Überschneiden von Räumen und Zeiten, von Wörtern und Bildern spendet oft die Bewegungs- und Erkundungsenergie für die poetischen Momentaufnahmen des Dichters. In dem Gedicht Eine Komposition, für M., das in Westwärts 12 diese Schreibbewegung auf dem Weiß des unbeschriebenen Papiers thematisiert - weiß und grün sind die Lieblingsfarben des Dichters - zeigt sich die unbeirrbare Zärtlichkeit des Schreibens auch in der messerscharfen Präsenz der Gedankenwege. In diesem modernen Liebesgedicht öffnet sich das Selbstbewußtsein des Dichters, das alles auf einmal begehrt, wie es in der Frühromantik, aber auch bei dem anderen anarchischen Petrarca-Preisträger Herbert Achternbusch immer wieder als Ziel gefaßt wird: eine Projektion, die das Schreiben und das Schweigen, die Dinge und die Anderen, die Zeit, die Liebe und den Tod in Bewegung hält, und das mit Humor und Sprachphilosophie. »Â›Packst du das?‹ ›Ich pack das Weiß hier nicht‹«, heißt es im Jargon der frühen 70er Jahre mitten im Gedicht. Und in großer Unmittelbarkeit - eine andere Qualität des dichterischen Universums von Rolf Dieter Brinkmann - endet das Gedicht vor seinem eigenen Anfang: Schau doch, schau / auf diese leere weiße Seite, sage ich, und wir lachen, / schauen darauf.

Für den optisch orientierten Dichter ist das Bewußtsein ein Bildschirm, auf dem sich alles eingeschrieben bewegt, in einer Ordnung, die - wie das von Brinkmann mehrfach zitierte »Gedankenschlägereien im Kopf« von Jean Paul anzeigt - vital, provisorisch und brutal sein kann. Zur gleichen Zeit bezieht sich auch ein Gegenspieler Brinkmanns in seiner Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt auf Jean Paul und zeigt, bei durchaus unterschiedlicher Perspektive, der Pop- und Beatgeneration der 60er Jahre bis heute noch, wenigstens in Spuren, verpflichtet. Neben Popzitaten, Trivialisierung des Poetischen, Poetisierung des Trivialen als Reflex auf Surrealismus, Dadaismus und Nouveau Roman, sowie dem Rückgriff auf die US-amerikanische Undergroundkultur und auf Film und Fotografie verbindet Peter Handkes Werk mit dem von Rolf Dieter Brinkmann viel, wobei der formalistische Ansatz des jungen Handke dem radikal-subjektiven Brinkmanns entgegensteht. Daß beide sich dabei nicht immer sonderlich gemocht haben, verrät - neben einigen kritisch-frechen Brief- und Tagebuchnotaten Brinkmanns - ein Foto aus dem Jahre 1968 von Brigitte Friedrich im Rowohlt-Literatur-Magazin 36, das Rolf Dieter Brinkmann gewidmet ist. Hier schauen unter der kurzen Schlapphutkrempe die energiegeladenen skeptischen Augen des Kölner Dichters auf den eher zurückgezogenen, verinnerlichten Blick des Karriereschriftstellers.

Das ungemein Persönliche und Hellsichtige an Brinkmanns Brieftagebuchroman, sein wilder, lyrischer Ton, der ungebändigte Rhythmus, wie auch die große Leichtigkeit machen die Briefe an Hartmut zu einem fast maßlosen Lektürestrom, aus dem es schwerfällt, wieder aufzutauchen, vielleicht gerade noch in einem Bruchstück aus dem »Gedicht auf meinen Schallplattenspieler und anderes« aus dem Jahr 1970, das einen großen Traum des Dichters freisetzt: Schallplattenspieler, ich mag dich und deine einfache Art / anzugehen ... ich drücke auf an und du fängst an, ... Ich glaube, daß jeder auch gern »singen« möchte / (und zwar auf eine ganz bestimmte Art / nämlich sehr laut, so daß jeder es hört).

Rolf Dieter Brinkmann, Briefe an Hartmut. Rowohlt-Verlag, Reinbek 1999, 285 Seiten, 45,- DM
Ders.: Westwärts 12, Rowohlt-Verlag, Reinbek, Neuausgabe 1999, 194 Seiten, 18,90 DM
Rowohlt Literaturmagazin 36. Rolf Dieter Brinkmann. Hg.: Maleen Brinkmann, Rowohlt-Verlag, Reinbek 1995, 222 Seiten, 18,- DM

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