Es sieht so aus, als sei das Spiel gewonnen. Die Zukunft kann nur zu einer immer tiefgreifenderen Integration der Frau in die einst männliche Gesellschaft führen." Mit diesen Zeilen aus ihrem monumentalen Hauptwerk Das andere Geschlecht (1949) erscheint Simone de Beauvoir heute mehr als bestätigt.
Daher insistieren Traditionalisten à la Eva Herman oder Frank Schirrmacher darauf, Frauen wieder in die Rolle aufopfernder Hingabe für Kinder und Ehemann zu drängen. Vor dem Hintergrund der sich verändernden Generationenverhältnisse und der Krise der Altersversorgung bemerkt Norbert Bolz in seinem Buch Die Helden der Familie: "Bekanntlich ist die Bewegung der Acht-undsechziger ... nahtlos in den Feminismus übergegangen, und was beide verknüpft hat, ist der Angriff auf die bürgerliche Familie. Die Kultur der Jobs verachtet die Kultur der Familie." Der Abtprimas des Benediktinerordens, Notker Wolf, sekundiert in der Welt am Sonntag: "Offenbar zählt eine Frau nur etwas, wenn sie wie ein Mann arbeitet und nicht, wie eine Mutter für ihr Kind sorgt."
Gründungsurkunde des Feminismus
Von Ferne kämpfen diese Traditionalisten gegen das in Europa nicht nur umgehende, sondern längst reüssierende Gespenst, das Simone de Beauvoir mit ihrer "Gründungsurkunde des neueren Feminismus" (Gudrun-Axeli Knapp) antreibt: Das andere Geschlecht dokumentiert die Lage der Frauen in den 100 Jahren vor dessen Erscheinen, unter den Bedingungen des Patriarchats in der Hochphase der Militarisierung der europäischen Gesellschaften.
Damals dominieren die Männer praktisch alle öffentlichen, wirtschaftlichen oder künstlerischen Bereiche, während Frauen weitgehend ein Leben im Verborgenen des Hauses führen, um dessen monotone Beschäftigungen kaum ein Mann mit ihnen konkurrieren möchte. So erscheint de Beauvoir das Leben von Frauen weitgehend als unwesentlich, ein Leben, das keine persönlichen Spuren hinterlässt, nur dahingelebt wird. Normalerweise hatten Frauen der französischen Bourgeoisie, der de Beauvoir entstammt, bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts nur drei Optionen: die Heirat, das Leben als alte Jungfer im Haus des Vaters oder das Kloster.
Als de Beauvoir nach dem Verlust seines Vermögens der 1908 in Paris geborenen Tochter Simone etwa mit zwölf Jahren eröffnet, dass sie nicht werde heiraten können, da er keine Mitgift für sie habe, beginnt sie eifrig in der Schule zu lernen. Ab 1926 studiert de Beauvoir an der Sorbonne Philosophie mit dem Ziel, Lehrerin zu werden. Dabei lernt sie 1929 Jean-Paul Sartre kennen, mit dem sie ein berühmt gewordenes Beziehungsmodell lebt: Ihre Beziehung beansprucht ein Primat, schließt andere Beziehungen, über die beide offen miteinander redeten, aber nicht aus. Berühmt werden ihre Verhältnisse mit dem US-amerikanischen Literaten Nelson Algren in den späten Vierzigern und mit Claude Lanzmann, der später die Holocaust-Dokumentation Shoah drehen wird.
Diese Lebensform, wie man sie im Paris früherer Tage vielleicht führen konnte - man denke an Henry Millers Stille Tage in Clichy -, wird in den prüden fünfziger Jahren, nach Erscheinen von Das andere Geschlecht aber gerade als provokant empfunden. Darüber hinaus setzt sich de Beauvoir auch in ihrem Buch offen und freizügig mit Sexualität auseinander und plädiert für Verhütung und Abtreibung. 1971 wird de Beauvoir die öffentliche Erklärung "J´ai avorté" ("Ich habe abgetrieben") unterzeichnen. Alice Schwarzer wiederholte diese Aktion im selben Jahr mit der Stern-Titelstory: "Wir haben abgetrieben!"
Credo des Existentialismus
Doch in Das andere Geschlecht vertritt de Beauvoir noch keinen feministischen Standpunkt. Es verdankt sich vielmehr dem Existentialismus der frühen vierziger Jahre, den Albert Camus, Sartre und sie entwickelt hatten. Ein Jahrzehnt zuvor lehrten Sartre und de Beauvoir noch an Gymnasien, zuerst in der Provinz, später in Paris. Jäh beendet der Zweite Weltkrieg das unbeschwerte und antibürgerliche Leben der beiden - zumeist in unterschiedlichen Hotels wohnend. Sartre kehrt 1941 aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurück. Nachdem der Aufbau einer Widerstandsgruppe scheitert, verlegen sich beide auf das Schreiben. 1943 erscheint Simone de Beauvoirs erster Roman Sie kam und blieb und Sartres Hauptwerk Das Sein und das Nichts, an dem sie erheblichen Anteil hat. Zur Begründung des Existentialismus trägt 1944 ihr philosophischer Essay Pyrrhus und Cineas bei.
Dem Existentialismus stellte sich in diesen frühen vierziger Jahren, während viele Franzosen mit den Nazis kollaborierten, die Frage, was die Herrschaft des übelsten Tyrannen für die Menschen zu bedeuten hat: Müssen sie tun, was er verlangt? Selbst im Zustand totaler Unfreiheit insistiert der Existentialismus auf die noch immer vorhandene Möglichkeit des Menschen, sich aufzulehnen. Damit rückt er die Freiheit und die Selbstverantwortlichkeit des Menschen für sein Leben in den Mittelpunkt, weist einen Ausweg aus der Tyrannei der Diktatur und Autorität. In der Nachkriegszeit gewinnt der Existentialismus zunächst an Popularität, die jedoch im beginnenden Kalten Krieg schnell abebbt in dem Maße wie die verschiedenen politischen Lager Gehorsam und Gefolgschaft der Menschen einfordern und nicht Mündigkeit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen.
Durchgesetzt hat er sich dagegen im Feminismus, wie ihn de Beauvoir Ende der vierziger Jahre entwirft, und zwar aus ihrer eigenen Situation heraus. 1943 entlässt sie die Kollaborationsregierung in Vichy aus dem Schuldienst, weil man ihr eine lesbische Beziehung zu einer Schülerin unterstellt. Sie arbeitet daraufhin für das Radio und später als freie Schriftstellerin. Als sie Das andere Geschlecht schreibt, hat sie geschafft, was sie mit Sartre zusammen entwarf: als Intellektuelle zu leben. Sie hatte das Schicksal, im Dunkel des Hauses für die Familie zu sorgen, hinter sich gelassen. Für Frauen fordert sie ökonomische Chancengleichheit, eine besondere Eigenart der Frau - gar eine natürlich gegebene, auf die sich heute wieder die Traditionalisten berufen, die aber auch in manchen feministischen Theorien propagiert wird - lehnt sie dagegen ab.
Auf die Frage nach dem "Wesen" der Frau antwortet de Beauvoir 1949 deshalb beinahe kategorisch mit einem Satz, der Berühmtheit erlangen sollte: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt. Die gesamte Zivilisation bringt dieses als weiblich qualifizierte Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten hervor."
De Beauvoir schließt damit an die Diagnose von John Stuart Mill an, der mit dem 1861 zusammen mit seiner Frau Harriet Taylor geschriebenen und 1869 nach ihrem Tod veröffentlichten Buch The Subjection of Women die Emanzipationsbewegung der Frauen inspirierte. Schon Mill unterstellte, dass alle behaupteten oder faktisch existierenden mentalen Unterschiede zwischen Männern und Frauen ausschließlich der Erziehung und den Lebensumstände entspringen.
Was bleibt
Den Einwänden ihrer Kritiker begegnet de Beauvoir im dritten Band ihrer Memoiren Der Lauf der Dinge (1963): "Eines der Missverständnisse, die mein Buch ausgelöst hat, besteht darin, dass man glaubte, ich leugnete jeden Unterschied zwischen Mann und Frau. Ganz im Gegenteil. Beim Schreiben wurde mir klar, was die Geschlechter trennt. Ich behaupte lediglich, dass diese Verschiedenheiten nicht natur-, sondern kulturbedingt sind." Damit antizipiert de Beauvoir bereits 1949 die postmoderne Position im Feminismus, die, wie ihre prominenteste Vertreterin Judith Butler, aus dem natürlichen Geschlecht keine zwangsläufige Geschlechtsidentität mehr ableiten will.
Das andere Geschlecht kehrt, wenn auch eher indirekt, im Denken der Philosophin Martha Nussbaum wieder, die an Kant und Mill anschließt, der es aber vor allem um Selbstbestimmung und Chancengleichheit für Frauen geht. Wenn heute Frauen in der westlichen Welt völlig selbstverständlich Berufe ergreifen und Karrieren machen, entspricht das weniger manchen feministischen Vorstellungen von Schwesterlichkeit, sondern vollzieht vielmehr einen existentialistischen Entwurf, nach dem Menschen über ihr Leben selber bestimmen dürfen und keinen vorgezeichneten Lebenswegen mehr folgen müssen.
Indessen kehrt nicht nur Sartre, sondern auch de Beauvoir im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre dem Existentialismus den Rücken, beide nähern sich den Kommunisten an, fahren mehrfach nach Moskau, lassen sich von Castro durch Kuba chauffieren, kämpfen gegen den französischen Kolonialkrieg in Algerien, gegen den Vietnamkrieg und stehen im Pariser Mai 1968 an der Seite der radikalen Studenten.
Zunehmend engagiert sich de Beauvoir in dieser Phase auch für den Feminismus. 1963 glaubt sie, die Frauenfrage nur im Sozialismus lösen zu können. 1972 schreibt sie in ihren Memoiren Alles in allem: "Heute verstehe ich unter Feminismus, dass man für die speziellen Forderungen der Frauen kämpft - parallel zum Klassenkampf - und bezeichne mich selbst als Feministin. Nein, wir haben die Partie nicht gewonnen: in Wirklichkeit haben wir seit 1950 so gut wie nichts erreicht."
Obwohl de Beauvoir ein stattliches literarisches Werk von Romanen und Erzählungen hinterlässt - 1954 erhält sie für den Roman Die Mandarins von Paris den Prix Goncourt - wirkt ihr essayistisches philosophisches Werk vor allem feministisch weiter; vielleicht weniger theoretisch als konkret existenziell und natürlich auch in der Liebe, besonders der homosexuellen. Denn der lesbischen Liebe war Simone de Beauvoir immer zugetan, die spätere Emanzipation der Homosexuellen ist ganz in ihrem Sinn. Nach dem Tod Sartres adoptiert sie ihre Freundin Sylvie Le Bon, mit der sie bis zu ihrem Tod 1986 zusammenlebt - mit Sartre hatte sie diese Lebensform abgelehnt.
Hans-Martin Schönherr-Mann lehrt Politische Philosophie in München und hat 2007 Simone de Beauvoir und das andere Geschlecht publiziert.
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