»Deutsche Sonderwege: Außenpolitik zwischen Bündnistreue und Emanzipation.« Unter diesem Motto starteten wir in der vorletzen Ausgabe eine Freitag-Debatte um die außenpolitischen Grundwerte, Orientierungen, Maßstäbe und Ziele der Berliner Republik. Die Ausgangsfrage war: Hätte Deutschland sich dem Kosovo-Krieg verweigern können und müssen? Und wäre das dann der Präzedenzfall für einen erneuten »deutschen Sonderweg« gewesen, der auf Mißtrauen bei den Nachbarn und Verbündeten stößt? Oder war die Kriegsteilnahme ein bündnispolitisches Muß - moralisch geboten und außenpolitisch gerechtfertigt? Ja, sagte Karsten D. Voigt, langjähriger außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und heute Koordinator für deutsch-amerikanische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt. Nein, widersprach Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzener der PDS im Deutschen Bundestag und vehementer Kriegsgegner (beide im Freitag 29/99). Herfried Münkler (Freitag 30/99) argumentierte streng geopolitisch, und leitete daraus sein »Ja« zur deutschen Beteiligung an der NATO-Intervention im Kosovo ab. Hans Misselwitz wirft einen Blick zurück auf den Zwei-Plus-Vier-Prozeß. Damals ist die Chance verpaßt worden, neben der deutschen auch die europäische Frage in einem kollektiven Sicherheitssystem zu lösen.
Bundesaußenminister Joseph Fischer schrieb vor einem Jahr noch unter seinem Kosenamen Joschka einen zu dieser Debatte passenden Aufsatz, der unter dem Titel »Vom richtigen Gebrauch der Macht« in der Berliner Zeitung erschien und als Vorwort Eingang fand in das Buch Das deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht von Andrej Markovits und Simon Reich. Alle Stichworte unserer Debatte sind hier vorgegeben. Der theoretischen Prüfung Joschka Fischers unterzogen - es könnte sich um eine Art schriftliches Staatsexamen des künftigen Außenministers handeln - gerät der Aufsatz zum geschichtlichen Exkurs, beginnend mit der Leitfrage: »Gibt es heute noch eine offene deutsche Frage?« Fischer löst das deutsche Dilemma zwischen objektiver Macht und historischer Verantwortung in der bekannten Formel von der europäischen Bestimmung auf. »Deutschland wird an seiner europäischen Berufung festhalten«. Das ist für Joschka wie für Joseph Fischer die Staatsräson der alten und neuen Bundesrepublik.
Von »Bündnistreue« steht kein Wort in dem Artikel und schon gar nicht als Staatsräson. Außerdem: Kein einziges Wort von NATO! Nicht einmal am Rande tauchen die vier Buchstaben auf. Die Rede ist immer wieder und hartnäckig von »Westintegration« oder »Westbindung« und zwei Grundtugenden in diesem Zusammenhang. Diese heißen »Verläßlichkeit und Berechenbarkeit«. Immer beide zusammen. Das verweist sowohl auf Kontinuität als auch auf den eigenen und eigentlichen außenpolitischen Spielraum der Bundesrepublik. Das ist der Spielraum, der zu verantworten wäre. Darum geht es, trotz und wegen des allgegenwärtigen Menetekels eines deutschen Sonderweges.
Für die Beteiligung der Bundesrepublik am Krieg in Jugoslawien ist »Bündnistreue« nur ein letztes Argument. Politisch vielleicht, rechtlich ist es nicht haltbar. Kein Mitgliedstaat der NATO war vertraglich verpflichtet, auf dem Balkan mitzuwirken. Nach Artikel 5 des NATO-Vertrages gibt es nur eine Beistandspflicht, also Bündnis treue, im Falle des Angriffs auf einen der Verbündeten. Die Bundesregierung stützte sich vielmehr in ihrer Entscheidung auf Beschlüsse des Bundestages, vor allem auf den vom 16. Oktober 1998 zur militärischen Flankierung des Holbrooke-MilosÂevic´-Aggreements - nachgerade eher als Einbindung der noch nicht angetretenen neuen Bundesregierung gedacht.
Aber auch nach Eintritt in das Spiel gab es Spielraum, wie das deutsche Drängen auf Rambouillet zeigt und Fischers Friedensinitiativen nach Beginn des Krieges beweisen sollten. Der Spagat zwischen Bündnistreue und Eigenverantwortung ist jedenfalls weiter als noch in den siebziger Jahren, da Hans-Peter Schwarz das Bündnis mit Amerika zur westdeutschen »Staatsraison« erhob. Und erheblich weiter als vor 50 Jahren - damals wagte sich der frisch gewählte Kanzler Adenauer kaum auf den Teppich zu stellen, von dem ihm das Besatzungsstatut der drei Siegermächte verkündet wurde.
Als letzten Endes verläßlich hat sich die Bundesrepublik auch diesmal erwiesen, berechenbar schon weniger. Warum geht es nicht umgekehrt: Berechenbar sein in eigener, souveräner Entscheidung, und darin schließlich verläßlich? Es geht um die Frage, wofür die deutsche Außenpolitik nicht erst seit dem 26. März 1999 Verantwortung trägt. In dieser Debatte könnte uns jene seit dem 12. März 1991 - dem Tag, da Moskau den Zwei-Plus-Vier-Vertrag ratifizierte - virulente Frage interessieren, welchen Gebrauch das vereinte Deutschland von seiner damals wiedererlangten Souveränität machen will und kann. Tatsache ist, daß Deutschland diese erlangte, nachdem es sie vorher selbst beschränkte. Ist das Modell Deutschland also keine AG, sondern eine GmbH?
Die Interpretation der beiden Grundtugenden »Verläßlichkeit und Berechenbarkeit«, ist der Schlüssel für die Frage nach der konkreten deutschen Verantwortung. Auf welch unsicherem Terrain sich die Akteure im Kosovo-Konflikt bewegten, zeigt auffällig die »bis an die Zähne bewaffnete humanitäre Rhetorik« (Franziska Augstein). Kein Wunder. Wurden sie doch mit einem sicherheitspolitischen Regelungsdefizit in Europa konfrontiert, das ihre Vorgänger ihnen aus der Zeitenwende von 1989/90 hinterlassen hatten. Angesichts des Erfolgs mochte das Festhalten an den Institutionen der Westintegration als »Stabilitätsanker« praktisch wünschenswert gewesen sein. Dessen zögerliche und selektive Ausdehnung nach Osten bringt aber Sicherheit nur dort, wo man nicht »out of area« lebt. Eine fortgeschriebene NATO kann Konflikte, die menschliches Leben und innere Stabilität einer externen Region bedrohen, nicht verhüten. Sie kann sie nur gewaltsam beenden. Und das offensichtlich auch nur selektiv, also dort, wo sie siegen kann - und will.
So gesehen sind also »Berechenbarkeit und Verläßlichkeit« kein ausschließlich deutsches Problem. Sonderwege stellen sich auf der Ebene des Bündnisses permanent und schärfer. Sie sind sogar die Normalität, in der sich das Bündnis bewährt, wenn es die Differenzen zur Erhaltung des verbindenden Zweckes moderiert. Erst wenn dieser Zweck unklar oder verändert wird, führen solche Interessenkonflikte zu Handlungen oder Unterlassungen, die Ausdruck des Rechtes der Stärkeren sind und eine Situation schaffen, die von außen entweder als Schwäche oder Willkür wahrgenommen wird. Frieden zu schaffen, mag das Ziel sein, mehr als Befriedung kommt dabei nicht heraus. Ohne ein funktionierendes System kollektiver Sicherheit, ob nun weltweit oder in Europa, das übrigens zur Konfliktregelung keiner weiteren Mandatierung bedürfte, gibt es keine gleiche Sicherheit für alle.
Was spricht dafür, daß wir es zehn Jahre nach dem friedlichen Versuch der Überwindung der europäischen Teilung, nun im Gefolge des sogenannten »europäischen Einigungskrieges« von 1999 doch noch in den Griff bekommen? Ein Merkmal der »unerhörten Begebenheit« von 1989/90 war, daß die Politik in Ost und West den Grenzfall so wenig bewältigte, wie sie ihn vorhergesehen hatte. Auf der Tagesordnung stand schon damals die europäische Frage. Sie wurde bewußt und schnell auf die deutsche Frage zugespitzt und blieb damit ungelöst. Dabei war jenes berühmte »window of opportunity« einmal weiter offen, als es die Apologeten der Alternativlosigkeit von Geschichte im Nachhinein behaupten, und es war wirklich Helmut Kohl, der es am 28. November 1989 mit seinem »Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas« als erster für ein Vierteljahr aufstieß. Kohl erfaßte den Kairos jener Zeit und übersetzte ihn in ein erstaunliches Programm, das, von heute aus gelesen, begreifbar macht, wieviel es uns vermutlich noch kosten wird, daß wir davon abgewichen sind.
Die helle Aufregung, die das Zehn-Punkte-Programm auslöste, hatte zwei Seiten: Erstens Deutschland betreffend und die von Kohl persönlich eingetragene Vereinigungsperspektive, von der noch in jenen Tagen niemand bei Gefahr der Umkehrung des demokratischen Aufbruchs laut zu reden wagte. Und zweitens Europa betreffend sein expliziter Verzicht auf eine strikte NATO-Perspektive. Kein Wort von NATO fiel in dem Programm! Statt dessen war die Rede vom KSZE-Prozeß als dem »Herzstück der europäischen Architektur«, von der Notwendigkeit weitreichender Abrüstung in Europa und schließlich auch davon, die »Nuklearwaffenpotentiale der Großmächte« auf ein Minimum zu reduzieren.
Beides ging den damaligen Akteuren entschieden zu weit und berührte Sonderrechte. Paris und London sprachen vom deutschen Sonderweg. Washington reagierte am Tag danach mit seinen »Vier Prinzipien«: Das Recht auf Selbstbestimmung, soweit es zweitens nicht die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO berührte, drittens das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen einhielt und sich in einem »friedlichen, graduellen ... Prozeß« vollzog. Gorbatschow und Bush beschworen einige Tage später auf Malta die Einhaltung des sicherheitspolitischen Status quo. Bis Februar 1990 blieb es ein Spiel mit verdeckten Karten und offenem Ausgang. Bis Moskau - angesichts des haltlosen Zustands der DDR - aus der Defensive ausbrach, den Deutschen die Lösung der deutschen Frage überließ, sie damit von der europäischen Frage entkoppelte - und diese so ungewollt auf die lange Bank schob. Das freilich kam dem Westen entgegen, an seinen Strukturen festzuhalten.
Ende Februar 1990 stimmte Helmut Kohl der Fortschreibung der deutschen NATO-Mitgliedschaft in Camp David zu. Er konnte die Einheit bekommen und das Bündnis behalten. Mit anderen Worten: Die Bündnisfrage war für Helmut Kohl ein zweites Argument. Die deutschen und die amerikanischen Prioritäten waren nicht dieselben. Robert Hutchings, damals Abteilungsleiter im Nationalen Sicherheitsrat und Bush-Berater, bekennt in seinem Buch Als der Kalte Krieg zu Ende war: »Unsere westdeutschen Partner haben niemals wirklich begriffen, daß für die Vereinigten Staaten bei diesem Vereinigungsprozeß mindestens ebensoviel auf dem Spiel stand, wie für sie. Unsere Diplomatie in dieser Zeit war vollständig darauf ausgerichtet, die amerikanischen - nicht die deutschen - Interessen zu verteidigen.«
Henry Kissinger zeigte sich, schon kurz nachdem der Westen die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands durchgesetzt hatte, beunruhigt darüber, ob damit nicht auch der grundlegende Zusammenhang des Westens ausgehöhlt wird. Seine Furcht um die Kohäsion der NATO spiegelte ein anderes Momentum der deutschen Vereinigung wider, gleichermaßen die von den Franzosen geforderte zweite Säule und das Spielbein der deutschen Westbindung: Die Intensivierung des westeuropäischen Einigungsprozesses, wie er im Vertrag von Maastricht 1991 seinen Niederschlag fand und die Fundamente einer künftig gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik legte.
Vor dem Hintergrund des Pariser Drängens auf eine »Europäische Verteidigungsidentität« im Rahmen der WEU bedeutet Karsten Voigts Doppelpackung »Bündnistreue und Emanzipation« (Freitag 29/99) mehr als eine Floskel: Es ist das wohl unvermeidliche militärische Unterfutter auf dem Weg zu einer neuen Balance of Power innerhalb des westlichen Lagers. Die Rede von Bündnistreue verdeckt bewußt, so konnte man bei Karsten Voigt zwischen den Zeilen lesen, die in Bewegung gekommene Bündnisfrage. »Dank seiner Teilnahme«, argumentiert Voigt, konnte Deutschland im Interesse einer Friedenslösung Rußlands Einbindung befördern und zugleich EU und WEU ins Spiel bringen. Und es kann künftig - »durch ...Mitgliedschaft in EU und NATO abgesichert« seine Interessen in Ost- und Mitteleuropa ohne »Furcht vor einer zu starken Dominanz« einbringen. Das ist legitim, vielleicht sogar die bessere der Möglichkeiten. Insgesamt ist es aber Ausdruck eines zwar gezähmten, aber unvermeidlichen machtpolitischen Ausbalancierens innerhalb des Bündnisses, ein Poker, in dem andere noch unbefangener aufspielen.
Die Kehrseite der Medaille ist, daß es seit 1990 deshalb im Bündnis nicht möglich war, ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu entwickeln, geschweige denn sich auf eine kohärente Jugoslawien-Politik zu verständigen. Für die Zone minderer Sicherheit zwischen Baltikum und Bulgarien, mit Ausnahme von Weißrußland und Serbien, bedeutete dies, sich im Wettbewerb um schnellstmögliche Westintegration entweder von anderen abzusetzen oder um Partner im Westen zu werben. So erfüllen die Staaten dieser Region zwei Bedürfnisse des Westens: Sowohl ihre Furcht vor Rußland als auch ihre eigenen latenten oder akuten Konflikte erneuern die geschwundene Legitimationsbasis der alten Allianz. Die einseitige Fortschreibung und Beschränkug auf Westintegration nach 1990 schuf also ihr eigenes Hinterland und ein Feld von Abhängigkeiten, das dem Westen im ganzen wie den einzelnen Mächten auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht innerhalb des Bündnisses entgegenkommt. Die Kosten-Nutzen-Rechnung dürfte für die Länder Mittel- und Osteuropas sehr unterschiedlich ausfallen. Der Wettlauf hat jedenfalls seinen Preis, wie der Sonderfall Jugoslawien zeigt, ein für Ost und West gleichermaßen abschreckendes Beispiel.
Herfried Münklers an dieser Stelle geäußerte Empfehlung, daß es für die politische Kultur in Deutschland wünschenswert wäre, statt sich an den Hintergründen der Kosovo-Intervention abzuarbeiten, zu einer Debatte über Interessen und Leitideen deutscher Außenpolitik überzugehen, ist sicher zuzustimmen. Allerdings braucht man dazu nicht erst nach der »geopolitischen Selbstverortung« zu fragen, sondern das, was seit der Ratifizierung des Zwei-Plus-Vier-Vertrages grundsätzlich für das vereinte Deutschland immer noch gilt, anzuwenden: Deutschlands militärische Selbstbeschränkung und souveräne Selbstbindung an das Völkerrecht und das Friedensgebot seiner Verfassung. Wenn dies ein Sonderweg ist, dann war er nicht nur der Geschichte geschuldet, sondern ist im wohlverstandenen Eigeninteresse Ausdruck des deutschen machtpolitischen Dilemmas in Europa.
Die Scheinalternative »Nie wieder Auschwitz!« oder »Nie wieder Krieg!« hat der Kosovo-Konflikt selbst aufgehoben. Massenmord ist Krieg und umgekehrt. Wer ihn verhindern will, muß der Friedenspolitik Vorrang geben. In historischer Verantwortung, im Bündnis mit anderen, im Geiste des Ausgleichs, also in der Kontinuität der Grundsätze und Marksteine der westdeutschen Politik seit 1949. So gesehen ist der 1990 mit dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag für das vereinte Deutschland feierlich bekräftigte deutsche Sonderweg die Alternative.
Unser Autor ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission und leitete 1990 die DDR-Delegation bei den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen
Bisherige Beiträge in der Reihe "Deutscher Sonderderweg":
Ausgabe 30: Bündnistreue als Staatsräson
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