Der "bescheidene Wohlstand", den die chinesische Regierung ihrer Bevölkerung als Folge ihrer Enteignung und der Reprivatisierung des Volksvermögens verspricht, ist in Peking nicht zu übersehen. Zumindest ein Teil der Mittelschicht verfügt über ein ansehnliches Vermögen, direkt sichtbar an der Autolawine auf der Straße, die durch wenig zivilisatorische oder humane Standards gebremst wird. Auf den Straßen gilt das Recht des Stärkeren und vor allem Lauteren (Hupe). Autos jagen Fahrräder und Fußgänger, Fahrräder jagen Fußgänger, Fußgänger tun gut daran, nach allen Seiten ein wachsames Auge zu haben, da der Fußgänger zudem durch seinesgleichen bedroht wird. Er ist so einsam wie der Autofahrer, der auf sein ästhetisch aufgeladenes Blech vertraut und sich den Weg auf den voll gestopften Straßen vorwärts, mitunter Zentimeterweise, erkämpfen muss.
Frau Li, Fußgängerin, die als moderne junge Frau einen Rucksack trägt, wurde schon öfters das Ziel von Dieben, sei es bei Ikea, auf einer belebten Straße oder an der Bushaltestelle. Ikea ist sehr beliebt bei den westlich orientierten Chinesinnen, findet man dort auch manches, was auf den chinesischen Märkten billiger ist, aber eben nicht von Ikea. Freilich findet man auch Produkte, die es dort nicht gibt, zum Beispiel Service, auch Schnäppchen genannt. Bei Ikea gelang es den Dieben, geschützt durch die Menge, Frau Li den Geldbeutel aus dem Rucksack zu stehlen; die bei Ikea herumlungernden zahlreichen Wächter reagierten auf die Entdeckung ihrer Enteignung eher gelassen, so dass die Diebe in Ruhe entkommen konnten.
An einer Bushaltestelle versuchten zwei Kinder, Frau Li den Geldbeutel zu stehlen; ihre Freundin sah das und griff ein, was ihr etliche Schmährufe der Kinder einbrachte. Passanten halten sich meistens heraus. Auch beim dritten versuchten Raub, als Frau Li eine Hand in ihren Rucksack spürte, sich umdrehte, ihr Handy dabei zu Boden fiel und ein Mann sie zornig, wie bei einer wichtigen Angelegenheit gestört, ansah und sich langsam davonmachte, verhielt sich die Mitwelt freundlich teilnahmslos. Die Szene ereignete sich zur Abendzeit an einer belebten Straße und wurde sicher von einigen Passanten gesehen. Freilich trauen sich die wenigsten Mitmenschen hier einzugreifen; sie fürchten sich vor den Dieben, ihrer Frechheit und den Messern, die sie möglicherweise bei sich tragen. Ein, wie soll man das nennen, soziales Verhalten trifft man auf der Straße selten, nur Freunde helfen sich gegenseitig, der andere ist Feind oder bestenfalls egal. Ob dieses gleichgültige Verhalten mit der Brutalität der Konkurrenzverhältnisse zusammenhängt, ist schwer zu sagen.
Kürzlich waren wir im Kaufhaus und sahen in der Lebensmittelabteilung, die im Untergeschoss liegt, einen extra Stand, in dem für Produkte rund um Kaffee geworben wird. Die Kaffeekultur ist in China in einem betrüblichen Zustand, was man am Erfolg der Starbucks-Kette ablesen kann. Dort und in anderen Geschäften werden die zum Kaffeekochen notwendigen Requisiten zu Preisen angeboten, die man auch in Deutschland bezahlen müsste. Das Kaffeetrinken befindet sich also im Ikea-Stadium: Es geht um Prestige, man kauft sich einen Stil.
Die prestigeträchtigen Mittelschichtsgegenstände haben exklusiven Charakter, sie sind nicht für den Massen- oder gemeinschaftlichen Gebrauch gedacht und ihre Anschaffung ist ebenfalls nicht für alle oder viele möglich, sie kreieren mithin jene "feinen Unterschiede", die die Menschen voneinander trennen. Diese Gegenstände kommen aus fernen Ländern oder sinken aus der Oberschicht in die mittleren Schichten ab. Seit es Pop gibt, tauchen sie freilich auch öfters aus der Unterschicht auf, schießen nach "oben", womit dann die notwendige Perspektive, der bewundernde Blick von unten, wieder hergestellt ist. Besagtes Kaufhaus jedenfalls verkaufte nun japanische(!) Kaffeefilter aus Plastik und japanisches graues Filterpapier zu stolzen Preisen. In Deutschland, und sicher nicht nur dort, wäre dieser Filter noch für Wühltische und Schlussverkäufe eine Zumutung, hier reiht er sich ein in eine Produktpalette auf zwei roten Regalen, die extra von einer Verkäuferin bewacht und betreut werden. (Freilich wird hier fast jedes Regal von einer Verkäuferin "bewacht".)
China ist ein spannendes Land. Am Interessantesten erscheint mir zu beobachten, wie sich eine neue konsumorientierte Mittelschicht herausbildet. Die extremen Reichtumsunterschiede und die jüngere chinesische Geschichte erschweren einerseits die Präsentation dieses Reichtums, andererseits gibt es auch keine Tradition für das Zurschaustellen von Statussymbolen, da das neue China keine entsprechende Kultur (mehr) kennt. So gibt es hier eine Vielzahl gut bewachter Zonen, mit einer Masse an Wächtern ausgestattet, von denen westliche Sicherheitspolitiker nur träumen können. In jedem Kaufhaus, jeder Universität, jedem Wohnkomplex, jeder Institution findet man sie.
Zur Vorbereitung auf das Leben darf man keine Mühe scheuen: So sah ich in einem Park ein Kinderkarussell bestehend aus kleinen Panzern. Auf dem Wasser gab es Boote, die mit kleinen Plastik-Gewehren ausgerüstet waren, damit kann man auf Minen schießen, die dann undefinierbare Geräusche abgeben und Wasser spritzen: eine triumphierende Fontäne für jeden Treffer.
Einmal hatte ich die Ehre, mit einer meiner Studentenklassen bei einer Universitätsprofessorin eingeladen zu sein, deren Mann in der Immobilienbranche arbeitet, wo das meiste Geld "gemacht" wird. Nach der Besichtigung der in einem Pekinger Vorwort gelegen Villa, kam es zum obligatorischen Erinnerungsbilder schießen, das hier so beliebt ist, dass man sich nicht scheut, Motive für die Kamera zu erfinden. Freilich, wenn die Teilnehmer einer Konferenz zusammen getrieben und fotografiert werden, oder die Abschlussklasse einer Universität sich im Talar an fremde Traditionen verschenkt, sind das gängige Arrangements für die Kamera. Die Aufnahmen bei jener Professorin waren aber von anderer, gleichsam gesteigerter Art. Sie inszenierte für die Schnappschüsse Szenen, wie sie bei "lustigen" Gartenpartys üblich sind, (zum Beispiel Polonaise); es waren Inszenierungen allein für den Fotoapparat, die aber ein echtes Erinnern an eine Situation - ein sowieso veralteter Gebrauch der Fotografie - verhindern. Ich frage mich, was die StudentInnen bei den Bildern erinnern werden?
Auch die Bettler, zumindest deren Elite, und hier wollen fast alle Elite sein, rüsten auf. So kommt es, dass sie schrecklich anzusehende Körper den Passanten präsentieren, ein Kontrastprogramm, das man hoffentlich zur Olympiade 2008 noch wird sehen können, in dem das Ausmaß der Zurichtung des menschlichen Körpers, zumindest ansatzweise, deutlich wird. Kürzlich robbte ein Bettler/Künstler, auf dem Hosenboden sitzend, durch die U-Bahn. In der Hand hielt er ein Mikrophon, auf dem Rücken befand sich eine Verstärkeranlage und ein Lautsprecher. Karaoke ist hier sehr beliebt. Er sang ein bekanntes chinesisches Poplied. An eine aufrechte Haltung, gehend, war wohl - möglicherweise ist er querschnittsgelähmt - nicht zu denken, ein Rollstuhl hätte ihn auf Augenhöhe mit den sitzenden Passagieren gebracht, was sein Betteln verunmöglicht hätte. So bewegte er sich durch die Wagen - singend, rutschend.
Frau Wang ist ein "illegales" Bauern-Kind, das es, mit Hilfe eines Bankkredits, bis zum Universitätsstudium gebracht hat. Erlaubt ist in China nur ein Kind, wenn das erste ein Mädchen ist, dürfen Bauern noch einen "Versuch" machen. Frau Wangs Eltern sind sehr arm und versteckten sich während der dritten Schwangerschaft der Mutter, um einer Sanktion zu entgehen. Dafür nahm die lokale Regierungsgewalt die Haustüre mit, was aber als Druckmittel nicht ausreichte, um die Eltern aus ihrem Versteck zu locken. Später bekamen sie die Tür zurück. Ein Nachbar nannte die Tochter Wang "ein 100-Yuan-Kind", weil das die Strafe war, die ihre Eltern für die unerlaubte Schwangerschaft bezahlen mussten. Der Kader, der anordnete, dass der Name auf die Haustüre geschrieben wird und diese dann mitnahm, war von jener Logik getrieben, die heute so erfolgreich ist: Überwachung.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.