Die „Gier“ sei schuld, so heißt es. Ohne Gier keine Finanz- und Wirtschaftskrise. Dabei ist Gier gewiss keine Besonderheit von Managern und Finanzhaien. Das gesamte System basiert auf der Gier aller Beteiligten und gerade auch jener Menschen, die keine fetten Boni abräumen, sondern zu den Durchschnittsverdienern gehören oder sogar als arm und benachteiligt gelten.
Denn auch unter denen, die eisern sparen sollten, sind viele kaufsüchtig. Kaufen ist für viele zum zentralen Lebensinhalt geworden. Und ähnlich wie die Spekulanten der Finanzblase zocken auch sie mit Geld, dass sie eigentlich gar nicht haben. Ihr persönliches Risiko ist allerdings um einiges höher als etwa dasjenige eines Brokers oder Traders, der auch bei schlimmsten Verlusten in der Regel über genügend Rücklagen verfügt.
Bei Kaufsüchtigen ist das anders: Eine junge Frau besitzt bereits einen ganzen Kleiderschrank voller überflüssiger Kleidungsstücke, kauft aber auf Kredit dauernd neue Klamotten. Ein Angestellter hortet Computer und Autozubehör. Er gibt dafür auch dann noch Geld aus, als er schon hoch verschuldet ist und nicht mehr weiß, wie er überhaupt die Zinsen bezahlen soll. Jetzt in der Krise muss nur noch der Verlust des Arbeitsplatzes dazu kommen, und die Katastrophe ist komplett.
Kontrollverlust im Kaufhaus
Dennoch unterliegen Kaufsüchtige dem unwiderstehlichen Drang, Geld auszugeben. Den Käufen folgen sehr schnell Scham und Ekel. Kaufsüchtige fühlen sich euphorisch erregt, sobald sie ein Kaufhaus betreten. Der Kauf einer Ware bringt sie in Hochstimmung. Die Freundlichkeit des Verkäufers erleben sie als persönliche Anerkennung. Aber oft schon beim Verlassen des Kaufhauses stellen sich unangenehme Gefühle ein.
Spätestens zuhause erscheinen die eingekauften Gegenstände als wertlos und überflüssig. Viele Kaufsüchtige packen das Eingekaufte überhaupt nicht aus, sondern horten es irgendwo im Keller oder auf dem Dachboden. Andere verschenken das neu Erstandene oder werfen es ungebraucht in den Müll. Um vielleicht doch noch die ersehnte Befriedigung zu erlangen, kommt es beim nächsten Einkauf zur Dosissteigerung: Nun wird erst recht voll zugelangt, wahllos und wie in Trance.
Nach einer Studie der Universität Erlangen-Nürnberg sind fünf bis acht Prozent der Deutschen massiv kaufsüchtig bei steigender Tendenz, Frauen etwas häufiger als Männer. Besonders unter jungen Leuten wird immer öfter zwanghaft Geld ausgegeben. Auf jeden eindeutigen Fall kommt eine Vielzahl von „beinahe“ Kaufsüchtigen oder solchen Personen, die gelegentlich von Anfällen exzessiven Geldausgebens geplagt werden.
Die Ursachen sind keineswegs rätselhaft. Denn Kaufsüchtige verhalten sich im Grunde wie wir alle in einer marktradikalen Kultur: Eher selten shoppen wir, weil wir etwas lebensnotwendig brauchen. Wir kaufen, um uns zu verwöhnen oder um uns gute Gefühle zu verschaffen. Es geht um Ersatzbefriedigung. Frustkäufe, Impulskäufe, sinnlose Geldverschwendung sind weit verbreitet. Kaufsüchtige unterscheiden sich daher vom normalen Konsumenten lediglich durch das Ausmaß des Kontrollverlusts. Denn wer sich ernsthaft fragt, was er von all den vielen Dingen, die ihn umgeben, wirklich braucht, wird feststellen, dass er auf vieles oder sogar das meiste verzichten könnte.
Nach Auffassung von Psychologen werden Eigentum und Besitztümer als eine Art „verlängertes Selbst“ erfahren. Offenbar haben viele von uns diese „Verlängerung“ nötig. Denn eine Kultur, die es nicht mehr schafft, Kindern Sicherheit und verlässliche Bindungen zu vermitteln, erzeugt massenhaft jenes innere Vakuum, das durch Suchtverhalten kompensiert werden muss. „Die zunehmende Individualisierung des modernen Menschen führt zu einer krisenhaften Destabilisierung seines Selbstwertes“, so Rolf Haubl, Psychoanalytiker und Psychologieprofessor an der Universität Frankfurt am Main, ein Experte für das Thema Kaufsucht. Daher werde der Konsum immer wichtiger, um Bedrohungen der Ich-Identität abzuwehren.
Kaufen als Bürgerpflicht
Mit den praktischen Konsequenzen solcher Defizite haben täglich die Schuldnerberatungen zu tun. Rund acht Millionen Menschen gelten in Deutschland als überschuldet oder sitzend nachhaltig in der Finanzierungsfalle. Zumeist sind Arbeitslosigkeit oder Trennung die Ursache. Aber nicht selten die Kaufsucht.
So erscheint eine junge Frau in der Schuldnerberatung – wie Haubl berichtet –, weil sie nicht mehr ein noch aus weiß. Die allein stehende Mutter von zwei Töchtern im Vorschulalter kann ihre laufenden Verbindlichkeiten bei Banken und anderen Gläubigern nicht mehr bezahlen. Sie sind so hoch, dass ihr gesamtes Einkommen als kleine Selbständige nicht ausreicht, um auch nur die am nachdrücklichsten eingeforderten Zahlungen zu begleichen. Das meiste Geld ging für eine viel zu aufwändige Wohnungseinrichtung drauf, die eigentlich nur gedacht war, um Bekannte zu beeindrucken, denen sie vorspielen wollte, sie sei beruflich erfolgreich. Die junge Frau leidet an massiven Existenzängsten, chronischen Schlafstörungen und hat schon wiederholt daran gedacht, sich und die beiden Töchter umzubringen.
Solches Verhalten ist unvernünftig, aber keinesfalls ungewöhnlich. Die Kreditwirtschaft fördert das wahllose und unkontrollierte Geldausgeben kräftig. Mit Werbung für billige Konsumentenkredite, laxem Umgang mit der Frage nach den Sicherheiten oder fehlender Aufklärung über die Risiken wurden nicht nur die amerikanischen Immobilienmärkte bis zum Platzen aufgepumpt. „Kaufen ist schon fast zur Bürgerpflicht geworden“, so der Ludwigshafener Kaufsuchtforscher Gerhard Raab. Mehr oder weniger alle definieren wir unseren Selbstwert durch den materiellen Besitz. Und wo das Bargeld ausgeht, da springt die Kreditkarte ein.
Der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm hat den Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Gesellschaft und den Verhaltensweisen und Charakterstrukturen der Menschen gründlich erforscht. Nach Fromm wird in der Waren-Gesellschaft schon in der Kindheit der „Marketing-Charakter“ herausgebildet. So heißt es schon bei Kindern: Spielzeug statt Zuwendung oder Geld statt Liebe. An die Stelle persönlicher Bindungen treten materielle Belohungen für Wohlverhalten. So entsteht ein ganz auf den Markt und seine Anforderungen ausgerichteter Menschentypus, der seinen Selbstwert vorwiegend durch das „Haben“ bestimmt. Und wie bei einer Ware ist es ihm wichtig, „sich selbst zu verkaufen“. Der persönliche Marktwert definiert sich in hohem Maße durch materielle Statussymbole. Geld und Geld ausgeben haben daher eine wichtige Funktion, die anzeigt, in welchem Ausmaß man gefragt ist und mitspielen kann.
Fromms Herleitung des Marketing-Charakters aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang des Konsumkapitalismus wird durch empirische Daten bestätigt. Eine repräsentative Untersuchung der Universität Hohenheim ergab, dass 1991 erst ein Prozent der Ostdeutschen kaufsüchtig war. 2001 waren es bereits sieben Prozent. Ganz eindeutig ist Kaufsucht also gesellschaftlich verursacht.
Verfehlt ist es daher, Kaufsucht als Erkrankung einzelner Individuen anzusehen. Besser wäre es, danach zu fragen, in welchem Ausmaß unsere ganze Kultur erkrankt ist. Die Gier nach Besitztümern hat uns alle ergriffen. Sie wird systematische stimuliert und ist als Systemkonstante in die neoliberale Gesellschaft eingebaut.
Die „Kaufsuchtstudie“ der Universität Hohenheim drückt es so aus: „In unserer heutigen Konsumgesellschaft spielt Konsumieren und Kaufen eine zentrale Rolle. Zugleich sind die Konsumgüter stark symbolisch überhöht. Durch Werbung werden wir zur Kompensation und Problemlösung mit Hilfe von Gütern erzogen (...). Die ‚kontrollierte Kaufsucht’ gilt als Normalität, während andere Süchte wie Nikotin- oder Alkoholsucht gesellschaftlich diskriminiert werden.“
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