Was ist los mit Tanja O.?

Amoklauf Erwachsenwerden in einer kranken Gesellschaft: In Bonn sitzt eine Schul-Amokläuferin vor Gericht. Anderenorts proben Schulen die Verwandlung zum Hochsicherheitstrakt

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit begann am Dienstag vor dem Landgericht Bonn der Prozess gegen die 16-jährige Schulamokläuferin Tanja O. Seit ihrer Festnahme befindet sich Tanja O. in einer geschlossenen Anstalt, die Ermittler befürchten einen Suizid. Die Staatsanwaltschaft hat die Schülerin wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Vorbereitung einer Sprengstoffexplosion und Verstoßes gegen das Waffengesetz angeklagt. Der 16-Jährigen drohen zehn Jahre Jugendhaft oder die Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Am 11. Mai hatte Tanja O. mit Hilfe von selbst gebastelten Molotowcocktails am Albert-Einstein-Gymnasium in Sankt Augustin versucht, ihre Lehrer und Mitschüler zu ermorden. Eine Klassenkameradin, die sie daran hindern wollte, wurde von ihr mit einem Kurzschwert schwer verletzt.

Was ist los mit Tanja O.? Wieder stellt sich die Frage, was jugendliche Schulamokläufer antreibt. Gerade ist eine Studie des amerikanischen Psychologen Peter Langmann erschienen, die ihnen bescheinigt, sie seien alle mehr oder weniger psychotisch. Langmann blendet den sozialen Zusammenhang, aus dem heraus Schulamokläufe entstehen, fast vollkommen aus. Schon frohlockt die Bild-Zeitung, die endgültige Erklärung für Schulamokläufe sei nun gefunden. Doch Langmanns Thesen stehen im Kontrast zu den bisherigen wissenschaftlichen Ergebnissen. Dies kamen zu dem Resultat, die Täter seien zwar psychisch auffällig, aber nicht grundsätzlich von der Norm abweichend.

Der bewachte Friede

Es ist abzusehen, dass sich diese Gesellschaft auf zweifache Weise des Themas Schulamoklauf entledigt: Sie wird den Tätern attestieren, dass sie verrückt sind, und sie wird die Schulen als Orte des Geschehens in Sicherheitstrakte verwandeln. Zeitgleich mit dem Prozessbeginn fand an einer Realschule in Coesfeld ein Amokmanöver statt. Lehrer und Polizisten probten den Ernstfall. Das wird es wohl bald an allen Schulen geben. Die Amoksirene ertönt, und sogleich – wenn auch vorläufig noch ohne Schüler - verwandelt sich der ganze Laden in ein Schlachtfeld, Klassenzimmer werden verrammelt, Schwerbewaffnete durchkämmen die Gänge.

Denn es gilt nicht nur, eine Gefahr abzuwenden, sondern die Beteiligten vor der Auseinandersetzung mit dem Thema zu bewahren. Das Muster ist bekannt: Stigmatisierung und Abschiebung aller Auffälligen, Isolation und Einigelung der Angepassten. Draußen die Durchgeknallten, drinnen der bewachte Friede. So kann ansonsten alles bleiben, wie es ist.

Siegen zählt

Aber Schulamokläufe sind Hilferufe. Junge Menschen verzweifeln an ihrer Lage: an der Familie, der Schule, der Gesellschaft. Daher der Hass auf alles, den auch Tanja O. als Motiv angibt. Denn was zählt wirklich in Sankt Augustin wie in Ansbach, Winnenden oder Erfurt? Was zählt ist, Erfolg zu haben, koste es was es wolle. Sich durchsetzen und siegen zählt. Groß in den Medien herauskommen zählt und sei es mit einem Tötungsrekord. So jedenfalls sehen es Schulamokläufer. Tanja O. wollte 50 Menschen umbringen. Das hätte ihr – zumal als Mädchen – mediale Unsterblichkeit verliehen.

Auch für nicht Amok laufende Pubertierende ist Erwachsenwerden unter solchen Bedingungen ein oft fast unmögliches Unterfangen. Nie zuvor hatten es junge Menschen so schwer, persönliche Identität und ein gesundes Selbstvertrauen zu erwerben. Das Erleben von innerer Bindung und Gemeinschaftlichkeit bleibt für die meisten aus. Jugendliche sind Mülleimer für die Schrottproduktion der radikalen Märkte, denen sie oft hilflos ausgeliefert sind.

Und die Schulen? Sie sind nach wie vor kaum in der Lage, den Verhältnissen etwas entgegen zu setzen. Was hier zählt, ist ebenfalls bekannt: die gute Note und sonst nichts. Jugendliche wissen das und überhören das pädagogische Gerede. Woher also der Hass? Die blinde Wut? Auch noch so viele Psychiater werden dieses Geheimnis nicht lüften, solange sie den Wahnsinn nicht dort verorten, wo er sich wirklich befindet. Denn Schulamokläufer sind zweifellos psychologische Grenzfälle, aber zugleich sind sie die Seismographen einer kranken Gesellschaft. Tanja O. sei kein „Monster“, liest man in der Presse. Natürlich ist sie das nicht. Verwirrt ist sie und ein Kind der Umstände. Diese Verwirrung und auch die Umstände gehören aufgeklärt.

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Geschrieben von

Hans-Peter Waldrich

Aller Beschreibung spottend.

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