"Faule Säcke" seien sie, die Lehrer, verkündete einst Gerhard Schröder. Günther Öttinger wählte die Beschimpfung "faule Hunde". Ein landauf, landab von Politikern immer wieder gern zitiertes Vorurteil ist - jedenfalls was die große Mehrheit der Lehrer angeht - falsch. Wie eine ganze Reihe von unabhängigen Studien zeigen, arbeiten Lehrer weit mehr als andere Arbeitnehmer, nämlich auch unter Anrechnung der Ferien durchschnittlich 48 Stunden in der Woche.
Das eigentliche Problem liegt woanders. Lehrer sind in einem überdurchschnittlichen Maße erschöpft und seelisch am Ende. Über 90 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer scheiden vorzeitig aus, rund 50 Prozent davon quittieren aufgrund psychosomatischer oder psychiatrischer Erkrankungen den Dienst.
Was als Angelegenheit einer gut situierten Berufsgruppe abgetan werden könnte, betrifft auch die Schüler. Denn auch ihnen geht es psychisch schlecht. Die Vorfreude der ABC-Schützen verwandelt sich rasch in zunehmende Resignation. "Glückskiller Nummer eins", so das Ergebnis einer 2007 veröffentlichten Untersuchung, sei bei Kindern und Jugendlichen die Schule. Viele reagieren mit Schulangst, psychosomatischen Beschwerden, Fernbleiben vom Unterricht oder Schulverweigerung.
Frostiges Klima
Wo aber liegen die Gründe für dieses um sich greifende Burn-out-Syndrom bei Lehrern? Und was macht Lehrer und Schüler gleichermaßen krank und fertig? Empirische Ergebnisse zeigen einen interessanten Tatbestand: Es wird nicht etwa zuwenig Wissen vermittelt, sondern an Schulen stimmt etwas mit dem zwischenmenschlichen Umgang nicht. Spannungen, Ängste und Ärgernisse bestimmen den Schulalltag, das emotionale Klima ist frostig und ungemütlich.
Professor Joachim Bauer, Leiter von zwei Schulstudien des Universitätsklinikums Freiburg, sieht es so: "In wenigen Berufen spielt das zwischenmenschliche Beziehungsgeschehen eine derart zentrale Rolle wie im Lehrerberuf. Anders als in Industrie und Verwaltung ist der Arbeitsprozess der Schule, also Lehren und Lernen, vollständig eingebettet in zwischenmenschliche Beziehungsabläufe." Daher gehe es nicht um die Neuausrichtung oder gar Erhöhung von Leistungsstandards, sondern darum, durch eine Umgestaltung der Beziehungsstruktur erfolgreiches Lernen überhaupt erst zu ermöglichen. Die Lehrer klagen in erster Linie über die viel zu großen Klassen. Unvermeidlich wird in den vollgestopften Klassenzimmern Beziehungsstress produziert, den die Lehrer als "Disziplinprobleme" wahrnehmen.
An zweiter Stelle wird problematisches oder destruktives Schülerverhalten genannt. Besonders Hauptschüler attackieren häufig ihre Lehrer verbal und bedrohen sie mit körperlicher Gewalt. Als "alter Penner" oder "blöde Fotze" beschimpft zu werden, ist an Brennpunktschulen schon fast die Regel. Allein innerhalb eines Jahres wurden dort nach der im Juli 2008 vorgestellten Studie des Universitätsklinikums Freiburg mehr als 53 Prozent der Lehrkräfte im Unterricht von Schülern schwer beleidigt oder aggressiv angegangen. Zu den Konflikten und Querelen während des Unterrichts kommen oft noch Auseinandersetzungen mit den Eltern. Und auch unter den Kollegen geht es nicht immer spannungsfrei zu. Mobbing ist auch im Lehrerzimmer keineswegs selten.
Überflüssiger Druck
Trotz dieses Arbeitsfeldes voller Beziehungshindernisse konzentriert sich die Schule in erster Linie auf die Vermittlung von Wissen. Von genervten Lehrern wird der "Stoff" gegen eine Barriere aus Ärger, Langeweile und schlechter Stimmung durchgedrückt. Kreatives und nachhaltiges Lernen benötigt dagegen ein positives Umfeld und vor allem ausreichend Zeit. Doch an Schulen geht es genauso zu wie in der Arbeitswelt: Zeiten der Erholung werden zusammengestrichen, Arbeitsabläufe komprimiert und intensiviert. In Baden-Württemberg müssen Gymnasiasten unterdessen wöchentlich bis zu 39 Stunden im Unterricht hocken. Hausaufgaben und Schulwege können dieses Zeitbudget auf 45 bis 50 Stunden aufblähen. Schüler und Lehrer rasen von Stunde zu Stunde, eine Leistungskontrolle jagt die nächste. Schulen orientieren sich am ökonomischen Prinzip: die größtmögliche Stoffmenge bei geringst möglichem Zeitaufwand!
Die Schulwissenschaftlerin Gerda Nüberlin hat die schulische Zeithetze untersucht. Sie kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis: "Der institutionelle Effekt des Lernens pro Zeit besteht darin, an den Schülerinnen und Schülern Unterschiede im Wissen herzustellen oder vorhandene zu verstärken." Wer mithalten kann, bekommt gute Bewertungen, wer länger braucht, wird ausgesondert. Weit mehr Schüler könnten die angestrebten Leistungsziele erreichen. Aber jeder Mensch hat seine individuelle Lernzeit. Wird sie nicht zugestanden, fallen all jene durch die Maschen, die ein wenig langsamer sind oder Umwege einschlagen. Da Umwege oft kreativ sind, kann es dabei auch die besonders Begabten treffen.
So sind Schulen Einrichtungen, die eine Menge überflüssigen Druck erzeugen. Das zentrale Druckmittel aber ist die Note. Dieses so selbstverständliche Instrument der Schule ist nach der Überzeugung der allermeisten Schulforscher keineswegs förderlich, sondern eher eine Lernbremse. Wer schlechte Noten bekommt, lernt oft nur noch widerwillig. Ehrgeizige Schüler starren dagegen nur noch auf die Note und verlieren das Interesse an der Thematik selbst. Wenn es Zeugnisse gegeben hat, laufen regelmäßig die Beratungstelefone heiß, denn die durch Zensuren entstanden Verletzungen bei den Kindern und Jugendlichen sitzen tief.
Dabei müsste es das erste Ziel der Schulen sein, das jugendliche Selbstvertrauen zu stärken. Ein positives Selbstkonzept und der Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit ist der stärkste Motor für erfolgreiches Lernen.
Schulreformen am Scheideweg
Was also tun? Richtet man sich nach den wissenschaftlichen Ergebnissen, hieße dies, auf die sozialen Beziehungen zu achten. Am vorteilhaftesten wäre die demokratische Schule, in der alle am Schulleben Beteiligten sich die Regeln über ihren Umgang miteinander selbst geben und sich Lehrer und Schüler nicht mehr als "natürliche Feinde" gegenüberstehen. Schüler dürften die für ihren individuellen Lernprozess nötige Eigenzeit entdecken. Es entstünde Raum und Gelassenheit für entspannte Kommunikation. Die Ziffernnote würde durch ausführliche Lernberichte ersetzt und durch Dokumentationen der ganz persönlichen Lernfortschritte. Bei stark reduzierter Klassengröße könnten sich die Lehrer als Lernbegleiter und Lernhelfer jedem einzelnen Schüler zuwenden. Beziehungsstress würde auf diese Weise reduziert, und wo er dennoch auftaucht nicht unter den Tisch gekehrt, sondern als Anlass für soziales Lernen genutzt.
Gegenwärtig besteht aber die Gefahr, dass es direkt in die umgekehrte Richtung geht. Der Druck soll sogar noch erhöht werden. Verkürzung der Gymnasialzeit, Anhebung und Vereinheitlichung der Leistungsstandards, Evaluation und Controllings im Sinne der Forderungen aus der Wirtschaft werden das Klima an den Schulen kaum verbessern.
So fordert der "Aktionsrat Bildung" der Bayerischen Wirtschaft, Lehrer nur noch befristet anzustellen, ihre Gehälter "leistungsbezogen" auszugestalten und die Schulen zu privatisieren. In einer auf marktwirtschaftliche Effizienz getrimmten Schule mit Lehrern als ängstlich-angepassten Saisonarbeitern werden auch die Schüler nichts mehr zu lachen haben. Nur die Wiedereinführung der Prügelstrafe wäre noch härter.
Hans-Peter Waldrich ist Autor der Bücher: Der Markt der Mensch, die Schule, Selektionsmaschine oder demokratische Lerninstitution? Sowie: In blinder Wut, Warum junge Menschen Amok laufen, beide erschienen bei PapyRossa, Köln 2007.
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