Bis dahin und dann weiter

Krimkrise Die westliche Politik in der Krise um die Krim scheint einer langfristigen Strategie zu folgen: Es geht darum, Russland zu demütigen. Nach der Krim könnte es weitergehen

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„Bis dahin und nicht weiter“ – So fasste Lutz Herden in einem Beitrag am 2. März 2014 die russische Position in der Krise um die Ukraine und die Krim zusammen. Der russische Präsident Wladimir Putin scheine entschlossen, „ein Zeichen zu setzen: Unter die Bilanz geostrategischer Verluste Russlands gehört ein Schlussstrich.“ Ich befürchte, dass die derzeit herrschenden Kräfte in der USA und der EU nicht Halt machen werden, auch wenn der Konflikt um die Krim gelöst werden sollte. Dazu wirkt deren Verhalten und Vorgehen zu sehr, als ob alte Muster, Ziele und Pläne umgesetzt werden. Damit wird auf deutliche Weise bestätigt, was der ehemalige Präsidenten-Berater Zbigniew Brzezinski in seinem Buch "Die einzige Weltmacht“ über „Amerikas Strategie der Vorherrschaft" (Taschenbuchausgabe 1999 - original: "The Grand Chessboard. American Primary and Its Geostratetic Imperatives" 1997) schrieb. "Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Rußland kein eurasisches Reich mehr.“ Brzezinski blickte damals in die Zukunft: "Irgendwann zwischen 2005 und 2010 sollte die Ukraine für ernsthafte Verhandlungen sowohl mit der EU als auch mit der NATO bereit sein, insbesondere wenn das Land in der Zwischenzeit bedeutende Fortschritte bei seinen innenpolitischen Reformen vorzuweisen und sich deutlicher als ein mitteleuropäischer Staat ausgewiesen hat." Dieses Ziel ist noch nicht erreicht, aber es scheint sich nur um geringfügige zeitliche Verzögerungen zu handeln.

Brzezinski gehört zu den klassischen Strategen des Imperialismus und „Kalten Kriegern“. 1998 gab er im Interview mit dem französischen Magazin Nouvelle Observateur zu, dass er an der US-Geheimoperation in Afghanistan vor dem Einmarsch sowjetischer Truppen im Dezember 1979 beteiligt war. "Diese Geheimoperation war eine ausgezeichnete Idee. Sie lockte die Russen in die afghanische Falle und Sie möchten, daß ich das bedaure?" Der so provozierte Konflikt habe doch zur „Demoralisierung und schließlich zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums geführt“. Als 1991 die Sowjetunion aufgelöst wurde, so der Kalte Krieger in seinem Buch, seien „die Grenzen Rußlands dorthin zurückverlegt worden …, wo sie im Kaukasus um 1800, Zentralasien um 1850 und – viel ärgerlicher und einschneidender – im Westen um 1600, kurz nach der Regierungszeit Iwans des Schrecklichen, verlaufen waren. Und: Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Rußland zudem seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war.“

In seinem Buch beschreibt Brzezinski zudem die EU und die Bundesrepublik als "europäischen Brückenkopf für Amerika“ sowie als nützliche Handlanger, um US-Interessen durchzusetzen. Was der geopolitische Schachspieler, der nicht ohne Einfluss auch auf die aktuelle US-Außenpolitik zu sein scheint (siehe "Staatsstreich als Strafe für Nein-Sager"), da aufschrieb, zeigt: Auch wenn der "Kalte Krieg" zwischen den beiden Blöcken mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatengemeinschaft Anfang der 90iger Jahre zu Ende ging, hat sich der Imperialismus ja nicht geändert. Seine Strategie der Weltbeherrschung, der durch die Existenz der sozialistischen Staaten Grenzen gesetzt worden waren, meinte er seitdem ungezügelt fortsetzen zu können. Mit dem (Wieder-) Erstarken Russlands auf weltpolitischer Bühne wird ihm nun eine Njet entgegengesetzt. Die bewährten Methoden des Kalten Krieges, diesmal nicht gegen eine sozialistische Sowjetunion, sondern gegen ein Russland, das stark genug ist, sich nicht dem US- oder EU-Diktat zu unterwerfen, werden wieder hervorgeholt, um die Zustimmung der eigenen Bevölkerungen für die Expansionspolitik zu erwirken. Diese folgt einem der beiden Grundprinzipien des Kapitalismus: der Konkurrenz. "Die einzige Weltmacht" (Brzezinski) wird alles, was sie kann und so lange sie kann, dafür tun, um das Heranwachsen und den Aufstieg einer anderen Macht neben ihr zu verhindern, ob das nun China oder Russland ist oder eine eurasische Union. Grundlage dafür ist wiederum ein anderes kapitalistisches Grundprinzip: der Profit. Der wird nicht gern geteilt und das eigene Stück vom Kuchen soll auf keinen Fall kleiner werden, was es würde, würde es geteilt. Zwietracht säen ist eines der dabei eingesetzten Mittel, neben Korrumpierung durch Einbeziehung in elitäre Kreise (Council on Foreign Relations, Atlantik-Brücke, etc.), Überwachung, aber auch Lob, Aufgabenteilung und ähnliches. Ein weiterer Beleg sind die aktuellen Ereignisse um die Ukraine und die Krim.

Der Konflikt um die Halbinsel im Schwarzen Meer, ausgelöst durch den von den führenden westlichen politischen Kräften unterstützten Staatsstreich in Kiew, ist noch nicht gelöst. Zum einen geht die politische und mediale Hetzpropaganda gegen Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin unvermindert weiter. Nach dem alten Gangster-Prinzip „Haltet den Dieb!“ werfen die westlichen Kriegstreiber und Regimewechsler Russland vor, es wolle in der Ukraine einmarschieren, bezeichnen Putin als gefährlichen „Brandstifter“, der gar wie Adolf Hitler vorgehe. Dabei wird ebenso ein altes, wenn auch bewährtes Muster der Meinungsmache und Propaganda eingesetzt: die Personalisierung politischer Konflikte samt Psychologisierung mit folgender Dämonisierung. Auf diese Weise wird "eine einzelne Person zum hassenswerten Schurken, der das alles verursacht haben soll", gemacht, wie es Manfred Wekwerth in Heft 10/2011 der Zeitschrift Ossietzky vom 14. Mai 2011 beschrieb. "Die Kosten des Psychologisierens sind gering, die Wirkung enorm." Wie verlassen von allen guten Geistern behaupten die medialen Gehilfen der politischen Kriegstreiber, wie z.B. der ZDF-Journalist Bernhard Lichte am 6. März 2014, allen Ernstes sogar: „Die Krim – womöglich nur der erste Baustein in Putins Plan, die Sowjetunion zu reanimieren.“ Dabei hat selbst die von der Bundesregierung finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) 2011 bestätigt: "Die russische Führung will ... nicht das sowjetische Imperium wiedererstehen lassen ...". Das hatte Michail Gorbatschow bereits 2009 gegenüber Russia Today betont: "Russland hat keine imperialen Ambitionen." Albrecht Müller hat auf den Nachdenkseiten schon mehrfach eingefordert, dass statt der seit 1989 wieder aufgebauten Konfrontation eine tatsächliche europäische Friedensordnung notwendig sei. Er warnte u.a. am 4. März 2014 in einem Beitrag vor der „Eigendynamik der ideologischen Wiederaufrüstung“ und wies auf die Rolle des Propagandakrieges hin. Und: „Auch die Eigendynamik des Wiederaufbaus des Feindbildes von den bösen Russen im Osten und den Guten im Westen kann im Westen die Bereitschaft zum Zündeln maßlos erhöhen.“

Konfrontation bewußt in Kauf genommen

Solche Stimmen der Vernunft sind selten, aber zum Glück immer wieder zu vernehmen. Auf einige hatte ich schon aufmerksam gemacht. Weitere Kommentatoren und Beobachter des Geschehens haben darauf hingewiesen, dass die EU mit ihrer Haltung gegenüber der Ukraine bezüglich des Assoziierungsabkommens den Konflikt mindestens mit verursacht hat, durch die Entweder-Oder-Haltung: entweder EU oder Russland. Selbst von Agenda-Kanzler Gerhard Schröder kam solche Kritik, wie sie auch die ehemalige ARD-Korrespondentin in Moskau, Gabriele Krone-Schmalz, in einem Beitrag für die Online-Ausgabe des Magazins Cicero formulierte. Die EU hat frühzeitig bewiesen, dass sie kein bis nur geringes Interesse an einer gemeinsame Lösung des Konfliktes hat. Das zeigte sich bereits, als der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch im November 2013 zwar Nein zum EU-Assoziierungsabkommen sagte, aber ein späteres Ja nicht ausschloß und dafür Bedingungen stellte. Solche hatte die EU vorher gestellt, wie der EU-Botschafter in der Ukraine, Jan Tombinski, bestätigte: "Die Kredite der EU und des Internationalen Währungsfonds waren gebunden an Reformen. Das ist die Hilfszahlung Russlands nicht." (Epoch Times, 21.12.13) Am 12. Dezember 2013 signalisierte die ukrainische Regierung Meldungen zu Folge Bereitschaft, doch zwei Tage später wollte die EU nicht mehr mit der Ukraine verhandeln. Da hatten die Proteste auf dem Maidan-Platz längst ihren (gewünschten) Lauf genommen. Als Ziel war ausgegeben worden, den demokratisch gewählten Präsidenten Janukowitsch zu stürzen.

Selbst der CDU-Außenpolitiker Manfred Grund stellte in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen, veröffentlicht am 4. März 2014, immerhin fest: „Russland wurde provoziert“. Der Schriftsteller Eugen Ruge erinnerte in der Wochenzeitung Die Zeit vom 7. März 2014 (Ausgabe 11/2014) daran: „Nein, nicht Putin, sondern die Selbstherrlichkeit des Westens hat die Ukraine-Krise befördert.“ Zwar behauptete er, der russische Präsident „restalinisiere“ das Land, stellte aber berechtigt fest: „Wenn sich die Bevölkerung einer autonomen Republik von Russland abzuspalten wünscht – wie im Falle Tschetscheniens –, findet dies den ungeteilten Zuspruch der westlichen Politik. Wenn aber die Mehrheit der Bevölkerung einer autonomen Republik sich mit Russland zu vereinigen wünscht, dann wird das als Katastrophe angesehen?“ Der Konfliktforscher Otfried Nassauer sagte im Deutschlandfunk am 10. März 2014 u.a., es müsse darum gehen, „Russland in die Entwicklung europäischer Sicherheit einzubinden und nicht auf Jahre auszugrenzen“. Doch die von ihm angeregte „verbale Eskalationskontrolle“, für Nassauer eine „große Tugend des Kalten Krieges“, scheint wie die Vernunft ohne Chance zu bleiben. Denn es geht gegen Russland, dem ausgerechnet der derzeitige Außenminister der USA, John Kerry, am 2. März 2014 vorwarf, „auf Basis frei erfundener Gründe in ein anderes Land einmarschiert“ zu sein.

Ich hatte solche Ereignisse befürchtet, als ich im Herbst 2013, als der russische Präsident verhindern half, dass der Westen in den offenen Krieg gegen Syrien eintritt und ich in dem Zusammenhang Schlagzeilen las wie "Putin durchkreuzt Obamas Syrien-Mission" oder "Putin spielt Katz und Maus mit Obama". Da war mir klar, dass die westlichen Kriegstreiber das nicht tatenlos hinnehmen werden, egal, ob US-Präsident Barack Obama Putin heimlich dankbar war, dass er den offenen Krieg gegen Syrien durchkreuzte. Ich war mir sicher, dass der Westen bzw. die daran interessierten Kreise im Westen die nächsten Chancen ergreifen würden, um zu versuchen, Russland in die Schranken zu weisen und Putin mit Problemen vor der eigenen Haustür zu beschäftigen. Da bot sich die konflikthafte Situation in der Ukraine gewissermaßen passend an, hatten doch die Regimewechsler von der US-Regierung schon fünf Milliarden Dollar investiert, um das Land aus seiner historischen Beziehung zu Russland herauszureißen und via „Europa“ in die US-Interessensphäre zu führen. Wer investiert, wie es Victoria Nuland vom US-Außenministerium selbst formulierte, erwartet, dass etwas dabei herauskommt, erwartet Profit und Rendite. Allein die Aussicht, dass Russland auch nur ansatzweise befürchten könnte, den Zugang zum Schwarzen Meer über die Krim verlieren zu können, weil in Kiew eine russlandfeindliche Regierung den Zugang sperrt, dürfte den westlichen Kalten Kriegern Freude bereitet haben. Sie nutzen die zu erwartende russische Reaktion, sich das nicht gefallen lassen zu wollen. Damit wollen sie beweisen, wie vermeintlich gefährlich Russland und Putin sind. Es wirkt, vor allem bei jenen in den eigenen Ländern, die das schon immer glaubten. Den Ländern um Russland herum bieten die westlichen Brandstifter den Schutz der NATO vor dem „gefährlichen Russland“ an, falls diese nicht längst dort ist. Und: Die Schlagzeilen gehen wieder andersrum: "Obama droht Putin"

Nach der Ukraine der Kaukasus?

„Der Westen rückt vor“, stellte ein Beitrag im Online-Magazin German Foreign Policy am 3. März 2014 fest. „In der Tat dringt der Westen seit den 1990er Jahren mit Macht ins Schwarze Meer vor - auf Kosten Russlands. Bildete rings um das Schwarze Meer in der Zeit der Systemkonfrontation nur die Türkei ein Gegengewicht zur Sowjetunion, so ist durch deren Zerfall und die NATO-Osterweiterung das westliche Kriegsbündnis in der Region erheblich gestärkt worden.“ Es müsste aber heißen: Der Westen rückt weiter vor und er will noch längst nicht halt machen. Den möglichen nächsten Zug des Westens gegen Russland nach der Ukraine auf dem geopolitischen Schachbrett deutet im aktuellen Heft des Magazins Zenith (März/April 2014) ein Text des Orientwissenschaftler Prof. Udo Steinbach, ehemaliger Berater der Bundesregierung, an. Er schreibt, die EU sei zu "einem Faktor im Kräftespiel im südlichen Kaukasus geworden". Die Region sei für Europa "um so essentieller, je mehr sein Interesse an den Öl- und Gasreserven Aserbaidschans und des kaspischen Raums wuchs." Und weiter: "Georgien entwickelt sich mit Nachdruck auf Europa hin. ... Das autokratisch regierte Aserbaidshan sucht über sein energiepolitisches Gewicht eine strategische Beziehung mit der EU einzugehen. Russland ist bemüht, diesen Prozess der Abkoppelung der ehemaligen Teile seines Imperiums zu blockieren. ...
Armenien aber ist der Punkt, an dem Moskau besonders nachhaltig angesetzt hat, das Abdriften der Kaukasusrepubliken aus seinem Orbit zu verhindern. Wie die Ukraine hätte Armenien Ende November 2013 auf dem Gipfeltreffen in Vilnius der 'Östlichen Partnerschaft' mit der EU beitreten sollen. Mit der gleichen politischen und wirtschaftlichen Brachialgewalt wie im Falle Kiews wurde Yerevan daran gehindert, diesen Schritt zu tun. Die von Moskau verordnete alternative Marschrichtung heißt Eurasische Zollunion. Das aber ist nicht das letzte Wort. Die EU ist attraktiv im südlichen Kaukasus. Nach den Spielen von Sotschi sollte sie Sorge tragen, dass sich die russische Führung auch den Anliegen der Völker des nördlichen Kaukasus öffnet. Die Anerkennung ihrer Identität im Licht der Geschichte steht hoch auf deren Agenda." Lutz Herden hatte in seinem eingangs erwähnten Beitrag gewarnt, Russland weiter zu demütigen „– dann wird sich die Lage auf der Krim nicht entspannen“. Und fügte hinzu: „Es gibt die Beispiele Südossetien, Abchasien und Transnistrien, wo Russland seit Jahren abtrünnigen Regionen als Schutzmacht zur Verfügung steht.“

Vorlagen für intellektuelle Kalte Krieger wie Steinbach lieferte u.a. der politische Kalte Krieger Brzezinski. In seinem Buch von 1997 behauptete er: „… das Scheitern einer von den USA getragenen Bemühung, die NATO auszudehnen, könnte sogar ehrgeizigere russische Wünsche wieder aufleben lassen.“ Für Russland hatte er folgende „richtige Schlußfolgerungen“ parat: „Angesichts der enormen Ausdehnung und Vielfalt des Landes würde wahrscheinlich ein dezentralisiertes politisches System auf marktwirtschaftlicher Basis das kreative Potential des russischen Volkes wie der riesigen Bodenschätze des Landes besser zur Entfaltung bringen. Umgekehrt wäre ein dezentralisiertes Rußland weniger anfällig für imperialistische Propaganda. Einem lockerer konföderierten Rußland – bestehend aus einem europäischen Rußland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichen Republik – fiele es auch leichter, enge Wirtschaftsbeziehungen mit Europa, den neuen Staaten Zentralasiens und dem Osten zu pflegen ...
Eine klare Entscheidung Rußlands für die europäische Option und gegen die eines großrussischen Reiches wird dann wahrscheinlicher, wenn Amerika erfolgreich die zweite, unbedingt erforderliche Linie seiner Strategie gegenüber Rußland verfolgt: nämlich den derzeit herrschenden geopolitischen Pluralismus im postsowjetischen Raum zu stärken, um damit allen imperialen Versuchungen den Boden zu entziehen. ..." Es sieht danach aus, als habe Brzezinski die Blaupause für das gegenwärtige Geschehen und die westliche Politik geliefert: „Bis dahin und immer weiter!“

Nachtrag:
Nachdem ich den Text fertig hatte, wurde ich auf ein interessantes Interview aufmerksam, das aus für mich unerwarteter Richtung bestätigt, was ich geschrieben habe. Stefan Meister, Russland-Experte des Think-Tanks European Council on Foreign Relations (ECFR), sagte am 10. März 2014 gegenüber tagesschau.de Interessantes:
"tagesschau.de: Welches Ziel verfolgt Wladimir Putin mit der Besetzung der Krim?
Stefan Meister: Ein aus seiner Perspektive ganz rationales, strategisches Ziel: Die Verhinderung eines NATO-Beitritts der Ukraine. Nachdem Präsident Viktor Janukowitsch abgesetzt wurde und eine pro-europäische Regierung die Geschäfte übernommen hat, war klar, dass die russische Politik des vergangenen Jahres, die Ukraine in den russischen Einflussraum zu holen, gescheitert ist. Also hat Russland von Soft- auf Hard-Power umgeschaltet. Im Kreml läuteten die Alarmglocken, dass mit einer pro-europäischen Regierung und mit diesem Druck der Bevölkerung nach einer EU-Integration bald ein NATO-Beitritt anstehen könnte. ...
Wir sind viel zu sehr auf diese Person Putin fixiert. Putin ist der Moderator zwischen verschiedenen Interessengruppen in der russischen Elite. ...
Und dann gibt es auch eine tiefe Enttäuschung über den Westen und die EU. Putin hat verschiedene Kooperationsangebote in Bereichen wie Sicherheit und Energie gemacht, hat eine Bundestagsrede gehalten und es gab nie eine Reaktion darauf. Und er hat das Gefühl, man kann sich auf niemanden verlassen: Zuerst hieß es, eine NATO-Erweiterung wird es nicht geben - die gab es dann aber doch. Jetzt gibt es den nächsten Membership Action Plan der NATO für Georgien. Putin sagt sich, wenn die anderen ihre Einflusszonen ausbauen, dann tue ich das jetzt auch. ...
Die EU beziehungsweise ihre Mitgliedstaaten tragen eine große Mitschuld an der jetzigen Situation, schon in der Vorbereitung auf den Vilnius-Gipfel wurden Fehler gemacht. Die EU hat ein Angebot an ukrainische Eliten gemacht, das überhaupt nicht deren Bedürfnissen entsprach. Gleichzeitig hat sie diese Eliten unter Druck gesetzt, dieses Angebot anzunehmen und hat die gesellschaftliche Dynamik dabei überhaupt nicht bedacht. Und sie hat völlig außer Acht gelassen, was das für Russland bedeutet: Der Verlust der Ukraine ist für Russland viel wichtiger als der Gewinn der Ukraine für die EU. ...
Wir reagieren ja quasi hysterisch auf das, was da passiert, bedienen historische Bilder und Bilder des Kalten Krieges. Wir schieben Putin die Schuld zu und verschweigen unseren eigenen Anteil daran. Auch unser Blick auf die ukrainische Opposition oder auf Julia Timoschenko ist sehr einseitig. Hier fehlt eine kühle Analyse der Realität. ...
Die derzeitigen Ereignisse stärken Putin zwar nach innen, aber sie schwächen das Land regional und international."
Meister beschreibt mit der letzten Aussage aus meiner Sicht genau das Ziel der westlichen Politik: dass Russland durch die Ereignisse regional und international geschwächt wird und zugleich auf die Provokationen kaum anders reagieren kann. Allerdings dürfte die EU nicht wie Meister meint "unvorbereitet", gewissermaßen als "Schlafwandler", in diesen Konflikt mit Russland "hinein geschlittert" sein. Das Verhalten der europäischen Politik ist ebenso wie das der US-Regierung alles andere als Zufall.

Nachtrag 2:
"Hatte der Westen Ende 2013 gejammert, die erste Runde der geopolitischen Auseinandersetzung sei an Putin gegangen, so meinte er nun, in der zweiten Runde zu triumphieren. Inzwischen spitzt sich die Lage weiter zu. In Kiew sind die Faschisten Teil der Regierung. Janukowytsch ist theoretisch (oder mit russischer Hilfe auch praktisch?) die Gegenregierung. An der ukrainischen Grenze veranstalten russische Truppen Manöver. Auf der Krim läuft der Countdown zur Lostrennung. 1914 führte so etwas zum Krieg. Der Historiker Christopher Clark hat in Bezug auf den Ersten Weltkrieg von „Schlafwandlern“ gesprochen: Jeder fühlt sich im Recht, jeder folgt scheinbar seinen Interessen und am Ende fabrizieren alle gemeinsam einen Konflikt, den so keiner wollte. Vielleicht sind es am Ende die Atomwaffen, die uns vor der letzten Konsequenz bewahren. Auf die Vernunft der Schlafwandler ist wohl nicht zu rechnen." (Erhard Crome in Das Blättchen 5/14 vom 3. März 2014)

Nachtrag 3:
"Etliche Länder und von ihnen kontrollierte Organisationen betrachten den Nordkaukasus weiterhin als ein Aufmarschgebiet für die Destabilisierung der Situation im Süden Russlands, diese Versuche müssen unterbunden werden, so der russische Präsident Wladimir Putin am Montag in einer Sitzung des Sicherheitsrates in seiner Residenz Nowo-Ogarjowo bei Moskau.

„Wir sind auch mit der destruktiven, russlandfeindlichen Tätigkeit mehrerer Länder und – das muss ich mit Bitterkeit konstatieren – etlicher von ihnen kontrollierten gesellschaftlichen und internationalen Organisationen konfrontiert, die den Nordkaukasus weiterhin als ein Aufmarschgebiet betrachten, um Russland insgesamt zu destabilisieren, uns einen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, den Einfluss Russlands zu untergraben und unsere Aktivität auf dem internationalen Schauplatz einzuschränken“, so Putin." (RIA Novosti, 9. September 2013)

aktualisiert: 25.3.14, 18:08 Uhr

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Geschrieben von

Hans Springstein

Argumente und Fakten als Beitrag zur Aufklärung (Bild: Eine weißeTaube in Nantes)

Hans Springstein

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