Ein Frage und keine Antwort

Migration/Sozialstaat Kann eine Gesellschaft, die zunehmend als desintegriert gilt, andere Menschen, die zu ihr kommen, integrieren?

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Ein Freund berichtete mir heute davon, dass er jemand aus dem Bereich der sozialen Arbeit davon reden hörte, dass es nach der ganzen Debatte um die Ankunft der Flüchtlinge hierzulande nun um deren Integration gehe. Damit würden sich in Zukunft all jene beschäftigen müssen, die den Flüchtlingen bisher ermöglichten, hier anzukommen.

Als ich das hörte, wurde ich wieder an etwas erinnert, was mir bei der ganzen Debatte und der gleichzeitigen Fremdenfeindlichkeit, für die Ereignisse wie der Angriff auf einen Bus mit Flüchtlingen in Sachsen stehen, unlängst wieder einfiel: Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat nicht nur mit seinem Buch "Was treibt die Gesellschaft auseinander?" bereits 1997 u.a. festgestellt und gewarnt, "daß Desintegration zu einem Schlüsselbegriff gesellschaftlicher Entwicklungen avancieren wird". Zusammen mit anderen Wissenschaftlern hat er in der Folge die Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit durchgeführt, die in zehn Büchern unter dem Titel "Deutsche Zustände" nachlesbar ist. Auf der Rückseite von Band 9 aus dem Jahr 2010 ist zu lesen: "Wie können nur hoffen, daß sich die Verunsicherung der Menschen angesichts der Krise sowie die damit verbundene Abwertung und Diskriminierung schwacher Gruppen nicht weiter zuspritzt. In jedem Fall stehen hier die Eliten in der Verantwortung – Eliten, von denen freilich niemand so recht weiß, ob sie nicht längst selbst zu einem Teil des Problems geworden sind."

2011 zog Heitmeyer am Ende der Langzeitstudie in Band 10 u.a. folgendes vorläufiges Fazit der Untersuchungen und Beobachtungen:
"• In der religiösen Sphäre ist das friedliche und vom Ideal der Gleichwertigkeit geprägte Zusammenleben der Menschen unterschiedlichen Glaubens immer noch latent gefährdet. Immer weniger Menschen wollen in Gebieten mit vielen Moslems leben. ...
• In der sozialen Sphäre haben die Ökonomisierung des Sozialen und die Staatsunsicherheit mit den verschiedenen Desintegrationsängsten und -erfahrungen eine Kernrelevanz für die steigenden Abwertungen der als 'Nutzlose' und 'Ineffiziente' deklarierten Gruppen, also von Hartz-IV-Empfängern und Langzeitarbeitslosen. ...
• In der politischen Sphäre gibt es mit der Wahrnehmung einer Demokratieentleerung, also von Vertrauensverlusten und einem Gefühl der Machtlosigkeit, ernste Warnsignale, da die Anfälligkeit für rechtspopulistische Mobilisierung auffällig ist.
• In der ökonomischen Sphäre scheint weiterhin eine Mentalität vorzuherrschen, die von der grundgesetzlichen Maxime, laut der Eigentum verpflichtet (etwa zur verhinderung sozialer Desintegration), wenig wissen will. So diagnostiziert Rainer Geißler (2010, 11) eine sozialstrukturelle 'Polarisierung zwischen Armen und Reichen bei schrumpfender Mitte' und eine höhere Anzahl von Abstiegen unter Angehörigen der sogenannten 'Mittelschicht'. ... gleichzeitig setzt das Öffnen der Schere ... offensichtlich auch polarisierende Einstellungen frei. So glauben 2011 im Vergleich zu 2006 signifikant mehr Befragte mit höherem Einkommen, denen, die an ihrer Not eine Mitschuld tragen, solle nicht geholfen werden. ..."

Der Soziologe schrieb vor fünf Jahren von der "geballten Wucht, mit der die Eliten einen rabiaten Klassenkampf von oben inszenieren" und von der zeitgleichen "Transmission der sozialen Kälte durch eine rohe Bürgerlichkeit, die sich selbst in der Opferrolle wähnt und deshalb schwache Gruppen ostentativ abwertet". Das zeige, "daß eine gewaltförmige Desintegration auch in dieser Geselslchaft nicht unwahrscheinlich ist". Das wurde wie gesagt vor fünf Jahren geschrieben. Die regierende und etablierte Politik hat bis heute nicht darauf reagiert. Auch die Medien – ich habe die letzte Pressekonferenz zu der Langzeitstudie miterlebt – schauten nur kurz auf und machten dann wie gehabt und die Probleme ignorierend weiter.

Mich beschäftigt seitdem die Frage, wie eine Gesellschaft, die so gekennzeichnet ist, es leisten und schaffen kann, eine Vielzahl von Menschen, die vor allem aus existenziellen Nöten ins Land kommen, zu integrieren. Eine Antwort habe ich nicht, nur Befürchtungen ...

PS: Am 22. Februar spricht der britische Journalist Antony Loewenstein, Autor des Guardian und Verfasser des Buches "Disaster Capitalism", im Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) darüber, wie die Regierungen in der EU, samt der deutschen, das Problem des Zustroms der Flüchtlinge bewältigen wollen, indem sie versuchen, diese fernzuhalten. Dabei sei die EU unfähig und unwillens zu einer vernünftigen Alternative und würde nur der Linie der USA, Großbritanniens und Australiens folgen, die führend seien bei der Privatiserung der Flüchtlingskrise, in dem sie alles von der Versorgung bis zur Überwachung an private Unternehmen übergeben. Das sei gefährlich für die Demokratie, meint Loewenstein und will in Berlin alternative Lösungen anbieten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Hans Springstein

Argumente und Fakten als Beitrag zur Aufklärung (Bild: Eine weißeTaube in Nantes)

Hans Springstein

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