"Wir haben über Fragen des Internets gesprochen, die im Zusammenhang mit dem Thema des PRISM-Programms aufgekommen sind. Wir haben hier sehr ausführlich über die neuen Möglichkeiten und die neuen Gefährdungen gesprochen. Das Internet ist für uns alle Neuland, und es ermöglicht natürlich auch Feinden und Gegnern unserer demokratischen Grundordnung, mit völlig neuen Möglichkeiten und völlig neuen Herangehensweisen unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen."
Das sagte Merkel auf der Pressekonferenz am 19. Juni aus Anlass des Besuches von US-Präsident Barack Obama. Sie hat dafür viel Kritik und ausreichend Spott geerntet. Egal, ob sie das Internet allgemein oder nur die Fragen der Online-Sicherheit meinte, es bleibt die Frage, was die Berater der Bundeskanzlerin zu diesen Fragen in den letzten Jahren mit ihr beredet und diskutiert haben und worfür sie bezahlt wurden. Was haben all die Sicherheitsbehörden, die jetzt ganze Cyberwar-Abteilungen aufbauen wollen, bis zu dieser Pressekonferenz getan, dass die Kanzlerin solch einen unwissenden Eindruck machen konnte oder musste? Das musste doch nicht sein ...
Statt auch noch in die Kritik-Kerbe reinzuhauen, habe ich mich entschlossen, mal ein paar Literaturtipps zusammenzustellen, damit Merkel nicht weiter blind durchs "Neuland" marschiert und weitere Fettnäpfe und Stolpersteine umgehen kann:
• Rolf Gössner: "Big Brother & Co. – Der moderne Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft" (Konkret Literatur Verlag 2000)
Gössner schrieb u.a.: "Mit dem globalen anglo-amerikanischen Abhörsystem Echelon werden vom US-Geheimdienst NSA (National Security Agency) und den anderen angeschlossenen Geheimdiensten bereits seit den 80er Jahren täglich Milliarden von Telefonaten, Faxen, E-Mails, Telexverbindungen durchgerastert, die über das Kommunikationssatelliten-Netz oder über Kabel gesendet werden. Ein geheimes, weltumspannendes Netz von über 120 Lauschposten und ortungsstationen zu Land, zur See (dort zapfen U-Boote die telefonkabel zwischen den Kontinenten an) und im Weltraum (über Satelliten) fängt den elektronischen Nachrichtenverkehr auf. Auch in der Bundesrepublik gibt es solche Echelon-Horchposten, so im bayrischen Bad Aibling und in Gablingen, im übrigen ohne rechtliche grundlage. Echelon hält auch die wichtigsten neun Knotenpunkte des Internets besetzt: Dort ist leistungsfähige Schnüffel-('Sniffer'-)Software installiert, die den Internet-Verkehr automatisch überwacht. ..." (S. 80)
• Sandro Gaycken, Constanze Kurz (Hg.): "1984.exe – Gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte moderner Überwachungstechnologien" (transcript Verlag 2008)
• Constanze Kurz/Frank Rieger: Die Datenfresser – Wie Internetfirmen und Staat sich unsere persönlichen Daten einverleiben und wie wir die Kontrolle darüber zurückerlangen" (S. Fischer Verlag 2011)
• Peter Schaar: "Das Ende der Privatsphäre – Der Weg in die Überwachungsgesellschaft" (C. Bertelsmann Verlag 2007)
• Ilija Trojanow/Juli Zeh: "Angriff auf die Freiheit – Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte" (Hanser Verlag 2009)
• Claus Eurich: "Die Megamaschine – Vom Sturm der Technik auf das Leben und Möglichkeiten des Widerstandes"(Luchterhand Literaturverlag 1991)
Eurich schrieb u.a.: "Die von der Bundesregierung geplanten Daten- und Kommunikationsnetze sind ... sowohl als Vertriebsinfrastruktur wie auch als Rationalisierungs- und Kontrollinfrastruktur geplant und gewollt ...
Der Ausbau des technischen Kommunikatonssystems wird eine Zentralisation von ökonomischer und politischer Macht nach sich ziehen, die ohne Vorbild ist. ..." (S. 83f.)
Und weiter: "Ein Hochtechnologie- und Großtechnologiestaat ist aus Selbstschutzgründen darauf angewiesen, liberale und demokratische Freiheitsrechte in engen Grenzen zu halten. ... dieser Hochtechnologiestaat ist ein Überwachungsstaat. In ihm stellen Menschen den entscheidenden Unsicherheitsfaktor dar. Dieser Staat lebt vom Mißtrauen in diejenigen, für deren Wohl er ausschließlich zu sorgen hätte. ... (S. 99)
Eurich warnte vor mehr als 20 Jahren vor einem "technologischen Apparat, in dem jede Bürgeraktivität registrierbar ist und kritische Demokraten mehr und mehr in die Ecke von Terroristen hineindefiniert werden". "Wir leben in sonnigen Zeiten für professionelle und pathologische Spitzel." (S. 100)
In seinem Buch "Tödliche Signale – Die kriegerische Geschichte der Informationstechnik" (Luchterhand Literaturverlag 1991) stellte Eurich fest: "Nur was perfekt kontrolliert wird, kann die Sicherheit nicht bedrohen. Perfekte Kontrolle aber heißt: Unterwerfung, heißt besiegen." (S. 23)
Es gibt sicher noch mehr Orientierungshilfen. Die Liste ist offen und weitere Hinweise willkommen.
Ob die Bundeskanzlerin diese Literaturtipps überhaupt zu lesen bekommt, bezweifle ich natürlich, wenn sie sich oder ihre Berater überhaupt dafür interessieren. Deshalb ist die erwähnte Literatur natürlich auch allen anderen Interessierten empfohlen.
Kommentare 10
Was die Vereinigten Datenstaubsauger -neben bestimmten, unverkäuflichen Betriebssystemen- gar nicht mögen, ist u.a. das hier (hier der Wikipediaeintrag dazu).
Und falls man so eine Art Hör- oder Seh- oder Hör-und Sehbuch eher bevorzugt...
=> alle CCC-Videos
=> FC-Mitglied Anne Roth ebenda mit einem Vortrag "Best of Verfassungsschutz" beim 29c3
=> Constanze Kurz (vor ziemlich genau einem Jahr) "Löschmaschinen " - Ein Vortrag zum Gedächtnis des Internets"
Mit Sicherheit ist die Bedrohung durch den Überwachunsstaat ernst zu nehmen, aber die Literaturtipps thematisieren nur die negativen Aspekte des Internets. Die positiven Aspekte, wie die sehr große Inkompetenz der relevanten politischen Akteure, Stichwort Neuland und die Möglichkeiten für die Individuuen werden nicht thematisiert. Beispiel hierfür gibt es zu hauf. Der arabische Frühling und die Occupy-Bewegung sind auch politische Beispiele für die Möglichkeiten des Internets.
Ja, natürlich gibt es auch die "positive" Literatur zum Internet. Aber ich bin mal von merkels Worten ausgegangen und davon, dass sie die Sicherheitsaspekte meinte mit ihrem verunglückten Ausspruch. Wenn sie das Internet und seine Möglichkeiten überhaupt gemeint haben sollte, ist das natürlich alles tatsächlich noch peinlicher und die Frage, wofür ihre Berater zu solchen Themen mit unseren Steuergeldern bezahlt werden, noch deutlicher zu stellen.
Aber wie gesagt, die Liste ist offen für Ergänzungen, auch die von Ihnen benannten Aspekte betreffend. Ich habe gewissermaßen nur einen Anfang gemacht.
Wow! Toller Titel, sehr schöne Idee. :-))))
Gern gelesen.
Besten Dank für Ihre Antwort. Ich würde Merkels Äußerung durchaus allgemeiner sehen. Denn im Zusammenhang mit PRISM stellen sich meiner Ansicht nach auch die Fragen nach den "neuen Möglichkeiten und d[en] neuen Gefährdungen" (Merkel).
Ihre Literaturliste ergänze ich aber gerne.
Allen vorran der Klassiker über die Auswirkungen des Internets auf unsere Gesellschaft:
Manuel Castells: The Information Age Trilogie. Hier ist insbesondere Band I, "The rise of the network society" zu nennen.
Sehr harter Stoff, deshalb ist für den Einstieg das wesentlich leichtere "The Internet Galaxy" zu empfehlen.
Einen sehr kanppen Einblick in die Theorie Castells gebe ich hier:
Wesentlich Massenkompatibler ist "Generation Internet" von Pallfrey und Gasser. Erreicht aber bei weitem nicht die Klasse von Castells und ist eher ein Ratgeberbuch. Eine ausführliche Kritik dazu, habe ich hier veröffentlicht.
http://digitalrealism.wordpress.com/2012/12/19/palfrey-und-glasser-generation-internet-2008/
Unsere Politiker benötigen wohl dringenst Nachhilfe in Sachen Grundrechte und Internet.
http://www.welt.de/politik/deutschland/article116509564/Buschkowsky-will-Hartz-IV-Betrueger-auf-Facebook-enttarnen.html
Ja, vor allem in Sachen Grundrechte.
Aber der Buschkowsky bekommt keine Liste erstellt.
Richtig so. Soll er doch dumm sterben. Ihre Dummheit ist ja schließlich unser bester Schutz.
Hm, ich befürchte, dass manches Mal deren Dummheit unser Schaden ist, aber auch keine Literaturliste dagegen hilft ...
Hallo Adamik,
http://t1.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcRJ7c6YQmxQV4l1EUFtHuts1325gkCYivrdWfj4RUyt9FuxAR0I
Neuländerin in Sachen Grundrechte,
..."Schutz von Person, Wohnung, Papieren und Eigentum vor willkürlicher Durchsuchung, Festnahme und Beschlagnahmung; Vorgaben zur Durchsuchung und Beschlagnahmung sowie Festnahme"...
Bill of Rights (Vereinigte Staaten 1791)
Ooch noch göltich', 2013
Wir mörkeln weiter, "ik' bin ein Köpeniker" (1963)