Besitzstand mit Sitzfleisch

Schröder regiert wieder Nach kurzem Siegestaumel hat die rot-grüne Erzählung zu ihrer vertrauten Sprache zurück gefunden

Selten sind Anspruch und Wirklichkeit beim Antritt einer Bundesregierung so schnell auseinander gefallen. Erst vor zwei Wochen haben Sozialdemokraten und Grüne einen Koalitionsvertrag vorgelegt, in dem viel Gutes, Schönes und sogar Wahres steht. Immer wieder werden dort Solidarität, Demokratie und Nachhaltigkeit beschworen. Rot-Grün habe die Chance, so der Höhepunkt dieses selbstgewissen Papiers, nicht nur die kommende Amtszeit, sondern das gesamte erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zu prägen.

Ob die Koalitionäre in den Verhandlungen noch besoffen waren vom eigenen, unverhofften Wahlerfolg, inwieweit Schröder, Eichel, Clement und all die anderen Lichtgestalten des Kabinetts solche Texte überhaupt ernst nehmen und welche Werbeagentur die Schlussredaktion übernommen hatte - all das wissen wir nicht. Überdeutlich ist dagegen, dass der über Monate - vor allem im Wahlkampf - erfolgreich verschwiegene Zustand der öffentlichen Haushalte und der Sozialkassen wieder die Federführung übernommen hat. Streichen, Kürzen, Kosten dämpfen, Eigenanteile erhöhen - nach dem kurzen Taumel des Sieges, nach der Märchenstunde für Parteitagsdelegierte hat die rot-grüne Erzählung ihre vertraute Sprache wiedergefunden.

Die Ministerin Ulla Schmidt darf nun das erste große Kapitel schreiben, in dem es um Prothesen, Rollstühle, Sterbegeld und viele andere Leistungen geht, die im Interesse der Beitragsstabilität zur Disposition stehen. Schon bald dürften weitere Streichlisten folgen: Vor allem für die Arbeits- und Sozialverwaltung, vielleicht aber auch nochmals für die Rentenversicherung, wenn im Winter saison- und rezessionsbedingt die Zahl der Beitragszahler mit einer steigenden Erwerbslosenquote drastisch sinkt. Aus den ersten vier Jahren haben SPD und Grüne offensichtlich die Lehre gezogen, dass man zu Beginn einer Legislaturperiode kräftig zuschlagen muss und nicht ständig auf einen Konsens zwischen unterschiedlichen, an einigen Fronten auch gegensätzlichen Interessen hoffen sollte.

Wenn es tatsächlich darum ginge, soziale Sicherheit zukunftsfest zu gestalten und unbegründete Lobby-Erwartungen endlich zurückzuweisen, dann könnte man dieses Anliegen unterstützen oder doch zumindest mit solidarischer Kritik begleiten. Ein auf längere Sicht taugliches Konzept ist aber nirgends zu erkennen. Wer immer nur die Kosten dem jeweiligen Kassenstand anpasst, aber nie die Frage stellt, wie soziale Sicherung auf eine breitere Basis gestellt werden kann, wird zwangsläufig immer wieder scheitern.

Wer das Land aus dem seit 20 Jahren anhaltenden, sozialpolitischen Stellungskrieg herausführen will, sollte endlich den Mut haben, sämtliche Einkommen an der Finanzierung des Sozialstaats zu beteiligen. Beamte, Selbstständige und Rentiers sollten ebenso herangezogen werden wie die Lohnabhängigen. Solidarität kann und darf nicht länger allein auf den schrumpfenden Faktor unselbstständiger Arbeit gegründet werden.

Wäre Rot-Grün entschlossen und selbstbewusst genug, diesen entscheidenden Schritt zu gehen, könnte die Koalition vielleicht tatsächlich ein gutes Stück deutscher Geschichte prägen. Vorerst drängt sich dieser Eindruck jedoch nicht auf.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden