Wer die Gemütslage junger, risikofreudiger Spekulanten studieren will, sollte sich unter www.comdirect.de in den Community Club begeben. Trauer herrscht am virtuellen schwarzen Brett: »Mein Depot sieht aus wie Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg.« Die vergangenen sieben Wochen waren in der Tat hart. Seit Anfang September erlebten die Technologiebörsen einen Crash in Permanenz. Dass die exorbitant hohen Kurse bei vielen Unternehmen nicht mit künftigem Wachstum und künftigen Gewinnen zu rechtfertigen sein würden, war seit langem klar. So sind die Stars des vergangenen Winters, vor allem die Internet-Werte, gnadenlos bestraft worden. Ebenso musste damit gerechnet werden, dass bei einer Welle von Börsengängen schwarze Schafe aufs Parkett geschickt werden. Sie sind jetzt namentlich bekannt: Gigabell, Infomatec, met@box - Konkurstermine vorab zu errechnen, ist unter hämischen Analysten zu einer beliebten Nebenbeschäftigung geworden. Demnächst dürften weitere Todeslisten folgen. Ist die Neue Ökonomie schon am Ende, bevor sie richtig begonnen hat? Gibt es sie vielleicht gar nicht?
Gründerjahre werden von wilder Spekulation begleitet - das ist nichts Neues. Und dennoch bleibt ein gravierender Unterschied zu früheren Zeiten, als entweder mit dem, was die Erde hergab, wie etwa Gold, Silber und Erdöl oder mit industriellen Massenprodukten große Vermögen begründet wurden. Heute geht es um technisches Wissen, um die Perlen des wirtschaftlich verwertbaren Geistes. Produkte des Geistes aber folgen eigenen Gesetzen. Sie sind - einmal hervorgebracht - beliebig oft und praktisch ohne Kosten pro zusätzlicher Einheit reproduzierbar. Sie unterliegen weder dem Problem knapper Ressourcen noch kennen sie Transportkosten. Und ihre Heimat ist in den meisten Fällen a priori der Weltmarkt. Wer es schafft, exklusives, möglichst eigentums- und patentrechtlich geschütztes Wissen hervorzubringen und weltweit zu vermarkten, technische Standards zu setzen oder als Netzbetreiber hinreichend viele Nutzer unter Vertrag zu nehmen, kann so schnell und so umfassend zu Vermögen kommen, wie dies in der Vergangenheit nie möglich war.
Es geht also vor allem um den Sieg auf den sogenannten »Winner-takes-all«-Märkten. Nicht nur die Anleger, die Unternehmen selbst verhalten sich zunehmend spekulativ, etwa wenn Technologiefirmen ihre gesamte Kapazität darauf konzentrieren, einen technischen Standard zu setzen, oder wenn Softwareanbieter ihr Produkt - in der vagen Hoffnung auf spätere Kundenbindung - zunächst verschenken. Oder wenn Netzwerkbetreiber ihre Dienste anfangs weit unter ihren Kosten anbieten, um hinreichend kritische Masse zu entwickeln. Bei diesem Rennen gewinnt, wer als erster einen Markt besetzt, und die Zahl der Gewinner ist damit notwendigerweise begrenzt. Entsprechend groß ist die Kapitalvernichtung bei den Verlierern, was hierzulande das Verschleudern öffentlicher Gelder einschließt. Denn die High-Tech-Neugründungen der vergangenen Jahre sind von der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der staatlichen Technologie-Beteiligungs-Gesellschaft mit mehreren Milliarden Mark unterstützt worden.
Nun könnte man annehmen, dass irgendwann auf den verschiedenen Teilmärkten die Würfel gefallen sind und sowohl die Technologieschlacht als auch die damit verbundene Spekulation wenn nicht endet, so doch an Vehemenz verliert. Ruhigere Zeiten könnten wieder anbrechen, vielleicht sogar mit der Aussicht, dass sich die Talente dieser Welt mehr den wirklichen als den künstlich durch unsinnige Konkurrenz erzeugten Problemen zuwenden. Bislang aber ist das Gegenteil der Fall. Die weltweite Suche nach bahnbrechenden Innovationen, die etablierte Standards wieder in Frage stellen, hat gerade erst so richtig begonnen. Risikokapital ist reichlich vorhanden und wird mittlerweile in allen entwickelten Ländern durch staatliche Förderprogramme ergänzt. Und die Forschung an Universitäten und anderen öffentlichen Instituten, die zumindest in Europa noch nicht dem totalen Kommerzialisierungsgebot gefolgt ist, soll sich - so sehen es die Planungen der EU-Regierungen vor - für die Bedürfnisse der Unternehmen öffnen. Schließlich verfolgt die EU das Ziel, beim Wettlauf um neue Technologien zu den USA aufzuschließen.
So dürfte auch für die Zukunft gesichert sein, dass Milliarden nicht nur investiert, sondern eben auch verschwendet werden. Was aber heißt eigentlich Kapitalvernichtung in der Neuen Ökonomie? Hier werden nicht Maschinen, Anlagen oder andere greifbare Vermögensgegenstände wertlos, sondern vor allem die Arbeiten von Forschern, Ingenieuren und weiteren hochdotierten Fachleuten. Denn das Kapital von High-Tech-Firmen ist gewissermaßen »human« geworden, es besteht eigentlich nur noch aus dem kreativen Potenzial der Mitarbeiter. Könnten sie möglicherweise irgendwann auf die Idee kommen, nach dem Sinn des wahnwitzig beschleunigten Hamster-Rennens zu fragen? Zarte Pflanzen einer Politisierung des Technischen gibt es ja bereits: bei der Atomenergie, bei Verkehrssystemen und in der Gentechnologie. Von Karl Marx stammt das schöne Wort, dass die Arbeitszeit als miserables Maß der Ökonomie zusammenbricht, sobald Wissenschaft und Technik die wesentlichen Quellen des Reichtums bilden. Ob dieser immer wieder zitierte Aphorismus auch für den Spätkapitalismus taugt, muss sich noch erweisen.
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