Keine Verschlusssachen mehr

Virtuelle Jobbörse, Toll Collect und andere Grossprojekte Wer in der Sackgasse steht, sollte neue Wege suchen

Die Wahrheit ist in die Funktionale gerutscht, meinte einst Bertolt Brecht. Ob der Hammer einen Kopf einschlägt oder einen Nagel, damit ein schönes Bild an ihm hänge - diese Entscheidung trifft nicht der Hammer, sondern der Mensch, der ihn in Händen hält. Dass alle Werkzeuge funktionsneutral sind und beliebigen Zwecken dienen, vom gemeinen Mord bis zur erhabenen Kunst, lässt sich heute nicht mehr ohne weiteres behaupten. Denn bei den vielfältig miteinander verbundenen Werkzeugen, die wir gemeinhin Technologien nennen, ist die Wahrheit längst ins Systemische gerutscht.

Mittel und Zweck trennen, um das Eine durch das Andere heiligen oder verurteilen zu können, ist angesichts moderner Großtechnologien ein naiver Glaube. Bei Atomkraftwerken ist das offenkundig. Wenn das Mittel niemals versagen darf, lässt sich kein Zweck rechtfertigen. Bei anderen technischen Systemen mögen die Folgen eines Fehlschlags weniger existenziell sein, aber mit dem Hammer, der Gutes oder eben Schlechtes tut, haben auch sie nichts mehr gemein. Nicht nur die Grenzen zwischen Mittel und Zweck, sondern auch jene zwischen Produktion und Anwendung sind fließend geworden.

Ihre eigene Erfahrung mit der Wahrheit, die im Systemischen lauert, macht im Moment die Bundesregierung. Gleich an drei Fronten ist sie mit ihrem Versuch gescheitert, neue Informationssysteme einzuführen. Ob elektronische Steuererklärung der Finanzämter, virtuelle Jobbörse der Bundesagentur für Arbeit oder Toll Collect - in jedem Fall wurden gesetzte Fristen erheblich überschritten und finanzielle Ziele auf dramatische Weise verpasst. All diese Projekte über einen Kamm zu scheren, wäre kaum angemessen. Aber angesichts der Parallelität der Ereignisse darf man wohl auch nach gemeinsamen Ursachen forschen.

Unfähige Beamte und korrupte Politiker sind die üblichen Kandidaten, wenn es um Schuldige geht. Sicherlich sind einzelne Beamte immer wieder überfordert, sollen sie umfangreiche Verträge mit komplizierten technischen Details prüfen. Wahr ist auch, dass Politiker zunehmend einer Versuchung unterliegen, die politische Korruption genannt werden sollte. Um prestigeträchtige Projekte medienwirksam und zu einem wahltaktisch günstigen Zeitpunkt ankündigen zu können, werden Verträge in Kauf genommen, die nicht ausgereift sind und öffentliche Interessen verletzen. Offenbar gehört auch Toll Collect zu dieser Kategorie: Kurz vor der Bundestagswahl 2002 sollte das Mautprojekt für Stimmung und Stimmen sorgen.

Jenseits von individueller Unfähigkeit und Korruption gibt es noch eine andere Erklärung für die merkwürdige Skandalserie. Großprojekte einer Public-Private-Partnership stehen vor einem grundsätzlichen Dilemma. Selbst wenn die Beamten fähig und akribisch sind, selbst wenn die Mandatsträger sich nicht von sachfremden Interessen leiten lassen, ist die öffentliche Hand den privaten Unternehmen hoffnungslos unterlegen. Je größer und komplizierter das Projekt, desto kompetenter müsste auch der Auftraggeber werden, wollte er technisch, betriebswirtschaftlich und juristisch mit dem Auftragnehmer auf Augenhöhe verhandeln. Tatsächlich aber dürfte das Kompetenzgefälle eher größer werden, und so ist es nicht verwunderlich, dass die Privaten gnadenlos den eigenen Vorteil suchen. In seiner Verlegenheit könnte der Staat auf eine ganz einfache Idee kommen: Jede öffentliche Angelegenheit ist bedingungslos öffentlich. Wenn Ausschreibungen von Beginn an transparent wären, dürfte Korruption kaum noch möglich sein - und das Wissen Tausender Experten würde einer Handvoll Bürokraten zur Seite stehen. Die Wahrheit - könnte Brecht dann sagen - ist ins Kommunale gerutscht.


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