Mahner und Macher

Zukunftsprojekte aus der Vergangenheit Über die selbst verschuldete Unmündigkeit der Linken und ihre mögliche Rückkehr in die politische Arena

Zu den prominentesten Toten im offiziellen Sterberegister der bürgerlichen Gesellschaft gehört die Linke mindestens seit 1989. Ist sie tatsächlich tot oder nur scheintot, vielleicht vorübergehend außer Form? Parteipolitisch jedenfalls ist die aktuelle Lage der Linken miserabel. Das gilt für die letzten Mohikaner in der SPD, für die wenigen Grünen, die noch egalité und fraternité buchstabieren können und seit einiger Zeit auch die PDS. Bestenfalls kann die Linke noch klagen und anklagen: Die Welt soll friedlicher, gerechter, sozialer, nachhaltiger werden. Der Staat soll regulierend eingreifen, um diesen Zielen näher zu kommen. Dass solche Forderungen ihren Sinn haben, ist kaum zu bestreiten, weil die Schwachen den Schutz des Gesetzes und die helfende Hand des Staates brauchen. Was aber fast immer fehlt, ist der Entwurf für das Neue, die Position, die der Negation erst ihre Kraft und einen Zug der Befreiung, der Emanzipation, vielleicht sogar der Lust verleiht. Wer den Verdacht, der Vergangenheit und dem Allheilmittel Staat verhaftet zu sein, glaubwürdig kontern und selbst wieder in die Offensive kommen will, muss ein eigenes Zukunftsprojekt präsentieren. Daran aber mangelt es allerorten. Dieses Eingeständnis wäre vielleicht der erste Schritt der Besserung.

Nach dem 22. September hat Wolfgang Ullmann im Freitag - nicht hämisch, sondern aus Besorgnis - die PDS aufgefordert, endlich zu klären, was sie unter demokratischem Sozialismus verstehen will. Wie wichtig eine solche Klärung ist, hat sich auf dem Parteitag von Gera gezeigt. Scheinbar gab es dort eine Auseinandersetzung zwischen Mahnern und Machern. Aber abgesehen von einigen wenigen Nostalgikern, deren Leitbild sich in der Formel "DDR plus Westgeld plus Freiheit" zu erschöpfen scheint, sollte doch allen anderen klar sein, dass auf dem Boden dieser Bundesrepublik Deutschland der Streit um die Zukunft geführt werden muss.

In diesem entscheidenden Punkt haben aber weder die moralisierenden Ankläger noch die Pragmatiker viel zu bieten. Im Grunde lassen sich beide von der Vergangenheit inspirieren, nämlich vom Goldenen Zeitalter des Rheinischen Kapitalismus, in dem es vieles Wünschenswerte schon einmal gab, wie etwa sozialen Ausgleich, erweiterte Bildungschancen und demokratische Rechte, starke öffentlich-rechtliche Medien, das Aushandeln von Interessen statt Dominanz des Shareholder Value. Mit Blick auf diese gefährdeten Errungenschaften kommt immer wieder die Vorstellung auf, dass man verlassenes Terrain doch nur neu besetzen müsse. Für viele westdeutsche Altlinke sind die Zustände, die man damals negierte, unter der Hand zum positiven Gegenentwurf geworden. Aber diese Epoche, dieser Fortschritt auf der Grundlage spektakulären Wirtschaftswachstums, ist passé und wird historisch eine Ausnahme bleiben.

Die Linke wird erst dann wieder Perspektiven in der Gesellschaft haben, wenn sie selbst Perspektiven für diese Gesellschaft hat. Um wieder Visionen zu gewinnen, sollte sie sich daher mit aller gedanklichen Konsequenz auf den Standpunkt begeben: "Wir müssen diesen Laden übernehmen". Diese Haltung scheint absurd und kann sich - siehe PDS in Berlin - in eine Anleitung zum Selbstmord verwandeln, wenn sie tagespolitisch missverstanden wird. Intellektuell aber ist eine Verantwortungsethik, die aufs Ganze zielt, wichtig, damit der billige Verbalradikalismus aus den Köpfen verschwindet und einem Denken Platz macht, das sich schonungslos fragt: Was hätten wir denn zu bieten, wenn die Welt nach Veränderung schreit? Nur Tobin Tax, Vermögensteuer und Grundsicherung?

Von den vielen Nüssen, die noch zu knacken sind, ist die Wirtschaft sicherlich die härteste. Bisher beschränkt sich die Linke darauf, den privaten Unternehmen mit Argwohn zu begegnen und ihnen äußerlich Ziele vor die Nase zu halten. Die Wirtschaft soll gerecht, nachhaltig und - meist als nachgeordnetes Kriterium genannt - effizient sein und in den Dienst einer freien, kulturvollen und solidarischen Gesellschaft gestellt werden. In der Tat ist das Zurückholen verselbstständigter Wirtschaftskreisläufe, die Wiedereinbettung des Ökonomischen in die Gesellschaft eine der wichtigsten Angelegenheiten der Zukunft. Wie aber soll die Wirtschaft, die - mit Geld als ihrem Medium und Profit als ihrem Ziel - in materieller Hinsicht notwendigerweise blind ist, Prioritäten verwirklichen, die ihr von außen gesetzt werden?

Klassische Instrumente sind staatliche Sanktionen und Gratifikationen, also Ordnungspolitik, Steuerpolitik und Wirtschaftsförderung. Mit wenigen Ausnahmen - wie etwa der Wertschöpfungsabgabe - gibt es aber kaum linke Ideen, die sich qualitativ vom bürgerlichen Werkzeug abheben. Bislang sind bestenfalls graduelle Unterschiede zu erkennen. Die Linke verlangt einen kräftigeren Einsatz regulativer Instrumente, sie will rechtsfreie Räume im internationalen Geschäft beseitigen. So gesehen, wird die volle Durchsetzung und partielle Ergänzung des jeweiligen Rechtsrahmens verlangt, ohne Ansehen von Person und Unternehmensgröße. Der Standpunkt der Linken ist gewissermaßen die durch und durch faire bürgerliche Gesellschaft.

Selbstverständlich muss und kann Politik immer nur an dem ansetzen, was sie vorfindet. Dennoch: Angesichts der Größe der Aufgaben werden die herkömmliche Problembeschreibung und das darauf bezogene, herkömmliche Instrumentarium wohl nicht reichen. Denn was hätten wir gewonnen, wenn die Grundsätze fairer Besteuerung durchgesetzt, die Schutzfunktionen des Staates realisiert und die Chancengleichheit weitgehend Wirklichkeit wären? Wir hätten ein Land, das wieder etwas sozialer, etwas gemütlicher, etwas zivilisierter geworden wäre. Aber noch längst nicht ein Gemeinwesen, das sich seiner Verantwortung gegenüber der Natur und den Menschen in anderen Teilen dieser Welt wirklich stellt.

Die Perspektive müsste also geweitet werden. Warum sollte nicht die Frage nach einer Vision für die Kernbereiche der Wirtschaft zumindest einmal gestellt werden. Und das hieße auch, dass sich Sozialisten in die Höhle des Löwen begeben müssen. Konkret: Was soll mit den Konzernen passieren? Wie gehen wir mit den vagabundierenden internationalen Kapitalien um? Abgesehen von periodisch aufkommender Folklore - etwa VEB DaimlerChrysler - gibt es auf solche Fragen nicht ansatzweise eine Antwort.

Vielleicht wäre es sinnvoll darüber nachdenken, ob nicht die Tendenzen, die unter den Begriff Humankapital gefasst werden, emanzipatorisch gewendet werden könnten. In vielen Unternehmen, zumal in den technologisch fortgeschrittensten, ist das Kapital insofern "human" geworden, als es eigentlich nur noch aus dem kreativen Potenzial der Mitarbeiter besteht. Ohne motivierte, qualifizierte, selbst handelnde, selbst kontrollierende Beschäftigte geht nichts. Die Entwicklung der Produktivkräfte unterstützt diesen Trend zur Dezentralisierung, Partizipation und Eigenverantwortung, indem sie mit Informations- und Kommunikationstechnologien die notwendigen Mittel liefert. Bislang allerdings sind die neuen Formen des Arbeitens und die gekappten Hierarchien eingebunden in Technologiewettläufe und Konkurrenzkämpfe. Könnten Ingenieure und Forscher möglicherweise irgendwann auf die Idee kommen, nach dem Sinn des wahnwitzig beschleunigten Hamsterrennens zu fragen? Zarte Pflanzen einer Politisierung des Technischen und der Naturwissenschaft gibt es ja bereits: bei der Atomenergie, bei Verkehrssystemen, in der Gentechnologie.

Von Karl Marx stammt das schöne Wort, dass die Arbeitszeit als miserables Maß der Ökonomie zusammenbricht, sobald Wissenschaft und Technik die wesentlichen Quellen des Reichtums bilden. Dieser Aphorismus wird jedoch nicht von allein geschichtsmächtig. Die Linke müsste dem qualifizierten Personal in den Kernbereichen der Wirtschaft Denkangebote unterbreiten, damit es zu einer Auseinandersetzung kommt, die nach dem sozialen und ökologischen Sinn technologischer Umwälzungen fragt. Wenn das nicht geschieht, werden sich die gut Gebildeten und gut Bezahlten auch künftig ihrem scheinbar wertfreien Leistungsethos hingeben und den Zwecken ihrer Geldgeber fest verbunden bleiben.

Aber nicht nur auf diesen Feldern strategischer Bündnispolitik verzichtet die Linke auf eigene Beiträge. Auch die klassischen Themengebiete der Volkswirtschaft bleiben weitgehend unbearbeitet, obwohl allen klar sein sollte, dass auch eine gerechtere, bessere, nachhaltige Ökonomie ihre Regeln für rationale Investitionsentscheidungen, für sinnvolle Preisbildungen und die effiziente Allokation von Ressourcen braucht. Den künftigen Produzenten und Konsumenten wird man nicht allein Altruismus oder gemeinwohlorientierte Vernunft zuschreiben wollen. Die Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats durch einen umfassenden Katalog sozialer und ökonomischer Rechte zu ergänzen, wäre gleichfalls eine unangemessene Antwort. So würden die schlummernden Schätze der Emanzipation, Selbstentwicklung und Kooperation nicht gehoben, sondern im Interesse eines passivierenden Anspruchsdenkens verfehlt.

Nun mag sich die Linke sagen, dass wir uns doch mit all diesen Fragen der Organisation von Unternehmen und der volkswirtschaftlichen Kreisläufe eigentlich gar nicht mehr beschäftigen müssen, weil sie ohnehin keine Zukunft haben können und dürfen. Dann allerdings müsste man angeben können, worin denn die Keimformen eines anderen Wirtschaftsmodells bestehen und wie sie zu verallgemeinern wären. Abgesehen von Tauschringen, Reparaturbörsen, Genossenschaften und anderem, was auf lokaler Ebene sinnvoll sein kann, gibt es zwei vielversprechende Denkrichtungen, die nicht auf den Tellerrand einer Müsli-Ökonomie beschränkt bleiben, sondern sich zentralen Fragen zuwenden.

Zum einen geht es um den Versuch, das Linux-Modell auf andere Bereiche wirtschaftlichen Handelns zu übertragen: Kann die Erstellung eines Betriebssystems in freier, gleicher und unentgeltlicher Kooperation von Software-Entwicklern als Organisationsmodell für die Produktion anderer Güter und Dienstleistungen dienen? Das Projekt Oekonux - eine Mailingliste von Informatikern und interessierten Laien - diskutiert seit mehr als zwei Jahren diese Frage. Bei aller Mannigfaltigkeit der teils intelligenten, teils romantisch-naiven Beiträge schälen sich doch zwei Antworten heraus. Das Linux-Modell taugt zumindest für Teilbereiche geistiger Produktion, versagt aber, wenn es darum geht, die trivialen Dinge des Lebens hervorzubringen, die man nicht allein dem Faktor "Spaß und Interesse" anvertrauen kann.

Dennoch ist die Debatte, die sich um das Phänomen Linux rankt, wichtig und erhellend, weil sie - entgegen allen bisherigen Traditionen - nach der Vereinbarkeit von individueller Produktion und vergesellschaftetem Eigentum fragt. Denn bei der Entwicklung von Linux war die Produktion jeweils ein individueller Akt und das Ergebnis wurde anschließend zum Gemeineigentum der interessierten Community. Dass an einer wichtigen Frontlinie wissenschaftlich-technischen Fortschritts über die Möglichkeit, den Sinn und die Überlegenheit eines Modells vergesellschafteten Eigentums diskutiert wird und dass in vielen anderen Bereichen - besonders in der Bio- und Gentechnologie - die Grenzen individualisierbaren und privatisierbaren Eigentums offenkundig geworden sind, nährt die Hoffnung, dass die Kopfarbeiter irgendwann für eine Vision gewonnen werden können, in der die Produkte des Geistes nicht nur, aber doch überwiegend öffentliche Güter sind.

Neben den Projekten, die nach den Chancen für eine Vergesellschaftung geistiger Produktion suchen, gibt es einen zweiten Hoffnungsträger, der am Energieproblem ansetzt. Wie wir alle wissen, muss das fossile Zeitalter so schnell wie möglich enden, wenn die Erde als lebenswerter Raum erhalten werden soll. Erneuerbare Energien zu fördern, ist deshalb eine mehrheitsfähige Maxime geworden. Aber die Energiewende könnte, sollte und müsste auch zu einer ökonomischen Wende werden. Hermann Scheer, SPD-Bundestagsabgeordneter und unermüdlicher Vorkämpfer eines auf solare Energie gegründeten Wirtschaftsmodells, hält 100-Prozent-Szenarien für möglich und benennt die Folgen, die eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien haben könnte. Weltweite, politisch nicht beherrschbare und ökologisch nicht verantwortbare Energieketten wären obsolet. Unter Einbeziehung der Landwirtschaft als Produzent von Biomasse könnten regionale Ressourcenmärkte entstehen. Für Unternehmen und Bürger ergäbe sich die Perspektive einer weitgehenden Energiesouveränität.

Wenn es der Linken endlich gelänge, ihre ökonomische Ignoranz zu überwinden, dann könnte es vielleicht irgendwann auch einen Gegenentwurf geben, der dem herrschenden Neoliberalismus selbstbewusst entgegen gestellt wird. Es könnte ein Gegenentwurf sein, der Gerechtigkeit nicht nur mit staatlichen Eingriffen, sondern auch durch neue Formen der Freiheit, der Selbstbestimmung, der Kooperation und der Regionalisierung herzustellen versucht. In diesem Kontext eines aufgeklärten Sozialismus könnte die Linke dann auch ihren alten Hammer aus der Tasche ziehen und überall dort Verstaatlichung verlangen, wo volkswirtschaftliche Effizienz privat nicht gewährleistet werden kann oder natürliche Monopole sich reproduzieren (wie etwa bei den UMTS-Netzen).

Erhobenen Hauptes in die Kämpfe der Zeit zu gehen, wäre mit solchem Rüstzeug wieder möglich. Die Sozialisten würden nicht ständig den anderen politischen Kräften hinterher hecheln, sondern selbst Maßstäbe setzen. Schon bald könnten originäre Antworten gefordert sein. Was wird die Linke sagen, wenn eine gigantische Welle der Kapitalvernichtung durch die Weltwirtschaft rauscht, wenn Schuldenpyramiden zusammenbrechen? Wird sie rechthaberisch den Finger heben, aber ansonsten schweigen, weil sie theoretisch und praktisch tief im 20. Jahrhundert stecken geblieben ist?

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