Nach der Septemberrevolution

Hochfinanz in Staatshand Wenn das alte Lied vom "Privatisieren, Liberalisieren, Deregulieren" nicht mehr erklingt - welche Melodie wird nun folgen?

Das neue New York ist noch nicht das alte Moskau. Nach den Vorgaben eines Politbüros oder einer staatlichen Plankommission zu tanzen, blieb den Investmentbankern am Hudson River bislang erspart. Dennoch beschleicht Unbehagen des Kreditakrobaten Seele. Was bedeutet es, wenn künftig Notenbank und Finanzministerium ständig mit am Tisch sitzen? In Internet-Blogs ist die Verzweiflung spürbar und der Fluchtpunkt schon in Sicht: "Back in the USSR, in the United States Soviet Republic."

Geschichtsblind wie sie sind neigen Amerikaner zu verqueren Vergleichen. Besonders kindisch werden sie, wenn ihnen die eigene Wirklichkeit den missionarischen Eifer zertrümmert, und man keinen Schuldigen jenseits der Grenzen findet. Aber mit der Angst im Nacken, dass die Finanzmärkte vollständig kollabieren, lernen zumindest diejenigen, auf die es ankommt, schnell und handeln prompt. Die in Deutschland üblichen Einwände von Staatskrämern wie Merkel oder Steinbrück schrumpfen in den USA zu nichtigem Gerede. Überschuldung der öffentlichen Hand? Falsche Ordnungspolitik? In der amerikanischen Septemberrevolution ist für Zauderei kein Platz. Getrieben von der Not und fern aller regierungskritischen Bekenntnisse, die zum Selbstverständnis der Nation gehören, läuft nun die virtuelle Gelddruckmaschine heiß, um wertlose Privatpapiere gegen Hunderte Milliarden echter Staatsdollars zu tauschen. Und selbst dabei gibt es noch eine Überraschung: die Sünder der Wall Street sollen in einem Maße, das sie verkraften können, selber bluten, sofern man den Eckpunkten des Rettungsplans glauben darf, dessen Details noch zu verhandeln sind.

Nach der größten Sanierungsaktion aller Zeiten, die für den Moment das Feuer erstickt haben könnte, sofern nicht bislang unbekannte Schwelbrände aufglimmen oder der US-Immobilienmarkt weiter absackt, rücken die mittelfristigen Folgen in den Mittelpunkt. Inwieweit wird das Verdauen der geplatzten Hypotheken- und Kreditblasen die US-Realwirtschaft belasten und den Rest der Welt beeinflussen? Ist der Offenbarungseid der Hochfinanz der Anfang vom Ende der weltwirtschaftlichen Sonderstellung, die es den USA erlaubt, sich exzessiv in eigener Währung zu verschulden? Die Experten rätseln.

Ebenso unbeantwortet ist vorerst die Frage, welche Lehren aus dem Crash eines ins Absurde getriebenen Kartenhauses aus Kreditverbriefungen und Ausfallversicherungen eigentlich zu ziehen sind. Wenn der heilige Dreiklang "Privatisieren, Liberalisieren, Deregulieren" nicht mehr erklingen kann und soll, welche Melodie wird nun folgen? Vom BP-Team - Notenbank-Chef Bernanke und Finanzminister Paulson, den entschlossenen Sanierern - ist fast nichts zu hören, was auf die Umrisse einer rekonstruierten Architektur der Finanzwirtschaft hindeuten würde. Und gänzlich ungenannt bleibt die Quelle, die nicht nur in den USA die Kreativität von Brokern und Dealern stimuliert: die krasse Spaltung der Gesellschaft, die am oberen Ende immer wieder für Anlagenotstände sorgt.

Vor 100 Jahren hätten Marxisten den aktuellen Schlamassel und den massiven Einsatz des Staates genüsslich kommentiert. Wunderbar, hier wird dem Sozialismus in vortrefflicher Weise der Boden bereitet. Vor 35 Jahren hätten selbst Jungsozialisten gesagt: Richtig so, aber bitte dauerhaft dabei bleiben, die Kommandohöhen der Wirtschaft gehören nicht in private Hand. Es mag gute Gründe geben, auf kräftige Worte dieser Art heute zu verzichten. Für die Kernsektoren der Privatwirtschaft gibt es derzeit keine wirklich überzeugende und - angesichts der Verwerfungen - angemessen radikale Umwälzungsperspektive. Um so dringlicher wäre es, das zu tun, was die Situation unverkennbar gebietet: das Finanzwesen vom Herrscher zum Diener degradieren, die weltweiten Kapitalflüsse lenken und leiten, die überschüssige Liquidität von Millionären und Milliardären durch wirksame Besteuerung absaugen, Armut bekämpfen und den Sozialstaat neu begründen. Nicht zuletzt ist die Frage berechtigt: Kann die geballte Macht des Staates, die sich jetzt wieder zeigt, nicht auch vorsorgend wirken? Warum rechtfertigen nur Kriege und Finanzkrisen außergewöhnliche Schritte? Weshalb wird etwa die anstehende Energierevolution nicht massiv vorfinanziert? Weltweit wankt die neoliberale Agenda - der K.O. ist möglich, wenn die Botschaft der Septemberrevolution, die Freiheit, das Handeln von Regierungen und Staaten neu zu denken, nicht verspielt wird.

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