Nur der Sieg zählt

Kommentar IG Metall meets Hölderlin

Vielleicht hat der amerikanische Philosoph Alfred North Whitehead doch Recht mit einer Vermutung, die ihn in seinen späten Tagen immer wieder befiel: Die Menschheit erreicht irgendwann ihren zivilisatorischen Höhepunkt, und danach geht´s nur noch bergab. Dass die Gesellschaft, in der wir leben, trotz des enormen sachlichen Reichtums offenbar kaum noch in der Lage ist, für ein friedfertiges und halbwegs gerechtes Miteinander zu sorgen, könnte den Verdacht nähren, dass jenes "irgendwann" schon hinter uns liegt. Wenn Parteien, abgesehen von der nackten Macht, nichts mehr heilig ist, wenn Finanzmärkte auch noch den letzten Euro aus dem Schulbudget streichen, und wenn rechte Dämonen aus dem Grab der Geschichte steigen, dann bleibt uns wohl nur noch der Trost des verzweifelten Hölderlin: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch."
Wie fast immer in der deutschen Geschichte kommt ein kleines Stück Rettung aus dem Südwesten der Republik. Dort vereinigt sich der Geist souveräner Denker mit der industriellen Kunstfertigkeit des Volkes und dem Geschäftssinn der Bürger zu einem merkwürdigen Phänomen, das kaum sonst irgendwo auf der Welt anzutreffen ist und das man - übertrieben, aber vielleicht nicht ganz zu Unrecht - "demokratischer Kapitalismus" nennen könnte. Gralshüter dieser einmaligen Tradition sind allerdings nicht die Nachfahren von Hegel, Schelling und Hölderlin und auch nicht die Unternehmer des Landes, sondern die Mitglieder der baden-württembergischen IG Metall. Wenn sie ihre Lohninteressen vertreten, verteidigen sie zugleich den historischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit, diesen letzten Rest industrieller Demokratie.
Zum Glück für uns alle gibt es sie noch, die wehrhaften Gallier bei Bosch und "beim Daimler", die sich auch von regierungsamtlichen Sozialdemokraten nicht einreden lassen, dass sich ihr Lohnverzicht in Beschäftigung verwandelt. Denn die Ergebnisse, die in den industriellen Zentren erzielt werden, sind wie die Masten eines gemeinsamen Zirkuszelts: je höher sie sind, desto mehr weitet sich auch der Spielraum für die Beschäftigten in anderen Branchen.
In welchem Umfang es zum Streik kommt, ist nicht die entscheidende Frage. Viel wichtiger ist, dass die IG Metall die Auseinandersetzung gewinnt, dass sie nicht nur in den Augen ihrer Mitglieder, sondern auch für die breite Öffentlichkeit nachvollziehbar ihre Forderungen so weit wie möglich durchsetzt. Ein Sieg der Metaller mitten im beginnenden Wahlkampf könnte die Idiotie der wirtschafts- und sozialpolitischen Einheitsdebatte aufbrechen, in der es scheinbar nur noch darum geht, unternehmerische Sonderinteressen in Sachzwang-Formeln zu verwandeln und den Sozialstaat kaputt zu sanieren. Ein Sieg der Metaller wäre ein kleines Zeichen gegen den passiven Zynismus, den wir uns nicht mehr lange leisten können, wenn wir - im Verein mit Hölderlin - Whitehead widerlegen wollen.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden