Ran an die 20 Prozent

Vorwärts Labour beweist: Sozial ist im Kommen. Die Linke muss jetzt offensiv werden – sowie erwachsen
Ausgabe 01/2018
Gerade die klassischen sozialdemokratischen Werte Corbyns kommen bei jungen Wählern gut an
Gerade die klassischen sozialdemokratischen Werte Corbyns kommen bei jungen Wählern gut an

Foto: Matt Cardy/Getty Images

Von dir erzählt diese Geschichte. De te fabula narratur. Das schrieb einst Karl Marx, als er deutschem Publikum empfahl, auf England zu schauen. Das erste und damit klassische, ebenso stürmische wie unsoziale System der industriellen „Plusmacherei“ zeige anderen Nationen das Bild ihrer Zukunft. Ökonomisch gilt das nicht mehr, aber politisch vielleicht doch. Welche List der Geschichte – das alte England kündet in Gestalt eines alten Mannes und einer alten Partei von einem Aufbruch, der undenkbar schien.

Jahrzehntelang als traditionalistischer Zausel verhöhnt, ist Jeremy Corbyn zum Repräsentanten einer an Haupt und Gliedern erneuerten Labour Party geworden. Nach dem Versagen früherer Labour-Regierungen und angesichts der mit dem Brexit verbundenen Ratlosigkeit hätte auch Labour den Weg der französischen oder niederländischen Sozialdemokraten beschreiten können: starrsinnig in den Untergang. Das Gegenteil geschah. Mit geerdeter Realität, mit dem Bekenntnis zu sozialer und ökologischer Gerechtigkeit und mit 300.000 neuen, vor allem jungen Mitgliedern bestimmt Labour heute die Agenda und treibt die Konservativen vor sich her.

Für dich, liebe SPD, erzählt good old Corbyn diese Geschichte. Aber du hörst nicht zu. In deinem Magen gärt noch immer Schröders verdorbene Kost. Brechreiz hast du ständig, aber kotzen willst du nicht. Käme der befreiende Akt, könntest du wahrnehmen, was Jeremy dir sagt. Das progressive Potenzial ist auch in Deutschland stärker als gedacht. Wenn du seine Mobilisierung wagst, würden dir überall Menschen zur Seite stehen, die – bislang gebeugt, nun aber stolz – dafür kämpfen, dass sich ihr Leben zum Besseren wendet. Solange die SPD die Signale nicht hört und sich weiter quält, weil ihr Mut, Ideen, Moral und Personal fehlen, ist Rot-Rot-Grün im Bund eine tote Option. Deshalb findet das wache, zivilisierte, soziale, ökologische und kriegsskeptische Deutschland keinen angemessenen politischen Ausdruck. Und deshalb können die Rechten die Themen setzen.

Die Mehrheiten sind da

Zeichen solidarischer Vernunft gibt es reichlich. Die Willkommenskultur des Spätsommers 2015 war beeindruckend. Die Kampagne gegen TTIP und CETA erfasste Hunderttausende in einem Themenfeld, das vor fünf Jahren nur kleinsten Kreisen bekannt war. Mit enormer Geschwindigkeit kam es zu massenhafter Aufklärung und riesigen Demonstrationen. Die Volksentscheide in Hamburg (Unser Hamburg – Unser Netz) und Berlin (Tempelhofer Feld) haben gezeigt, dass auch bei uns Mehrheiten gegen das wirtschaftliche und politische Establishment und für das Gemeinwohl möglich sind. Linksprojekte wären auch auf Bundesebene populär. Umfragen bestätigen immer wieder, dass ein verlässlicher Sozialstaat, ambitionierte Umweltpolitik, zivilisierte Friedenssicherung und mehr Demokratie ausdrücklich gewünscht sind. Im Februar und März 2017 offenbarte der Sprung der SPD um zehn Prozentpunkte, dieser kurze Schulz-Moment, wie sich die Verhältnisse drehen, wenn man politisch zu artikulieren beginnt, was als mehrheitliches Begehren schon da ist.

Im Moment scheint es so, als müsse das linke Deutschland von vorn beginnen. Am Anfang stehen die naheliegenden, aber bislang vernachlässigten Fragen, die man angesichts der Starre im eigenen Land am besten importiert. Weshalb kam es zur spektakulären Wende der Labour Party? Warum gewann im Kernland des Antisozialismus der selbsterklärte demokratische Sozialist Bernie Sanders fast die Kandidatur der Demokratischen Partei? Wie kann es sein, dass der eigenwillige, bisweilen zu Entgleisungen neigende Linkskandidat Jean-Luc Mélenchon vor Zehntausenden Wahlkampf-Vorlesungen zelebriert und im ersten Wahlgang der französischen Präsidentenkür 30 Prozent Zustimmung von der jüngsten Wählergruppe erhält?

Drei alte Männer, allesamt Außenseiter und Charismatiker, haben im Verein mit jungen Internet-Garden Hirne inspiriert, Herzen berührt und – gemessen an ihren jeweiligen Ausgangswerten – grandiose Erfolge erzielt. Klar, in Deutschland fehlt ein Charismatiker, eine Charismatikerin von Rang. Dennoch: Die von Corbyn, Sanders und Mélenchon verkörperte Kombination von mehr Gerechtigkeit, mehr Nachhaltigkeit, mehr Vielfalt und mehr Demokratie findet auch hierzulande Resonanz. Und überall zeigt sich: Geradlinigkeit, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit sind fundamental wichtig.

Wer, wenn nicht die SPD, soll diese Lektionen beherzigen? Die Grünen, die sich zu Recht um die Umwelt sorgen, aber das gemeine Volk als verdächtiges Wesen betrachten und jeden Gedanken an die Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft vergessen haben? Eine neue, künstlich erzeugte und personalisierte Wahlplattform, die links-mittig in Deutschland versucht, was Emmanuel Macron rechts-mittig in Frankreich schon gelang?

Für den Moment sind das Gedankenspiele ohne Substanz. So bleibt nur eine Konsequenz: Macht die Linkspartei zur 20-Prozent-Partei, damit die SPD unter Druck gerät und die Grünen erleben, dass es jenseits der freundlichen Anlehnung ans Besitzbürgertum noch andere Varianten gibt. Aber nach zwölf Jahren Opposition hat sich die Linkspartei im Reservat eines kleinen, wenngleich unangefochtenen Anteils am Geschehen eingerichtet. Dort agiert die Partei, als wäre sie eine Gewerkschaft im politischen Raum. Das unmittelbare Geldinteresse der Transfer-Empfänger, Niedriglöhner und Normalverdiener war im Wahlkampf wiederum ihr dominantes Thema. Für eine Nischenpartei, die sich nicht zutraut, die Bundespolitik insgesamt zu bestimmen, mag die Verengung passen. Wer aber mehr will, kann nicht den Herausforderungen ausweichen, die unangenehm sind oder für die man bislang keine Kompetenz zugesprochen bekommen hat.

Auf dem Weg zu einer größeren Linkspartei sollte klar sein: Gerechtigkeit ist der Markenkern, aber nicht das einzige Thema. Aktuell diskutiert die Bundestagsfraktion, ob sie Flucht und Migration liberal regeln will (volle Wiederherstellung des Asylrechts) oder ultraliberal (schrankenlose Einwanderung). Aber was ist tatsächlich wirksam gegen das unendliche Leid und gleichzeitig zustimmungsfähig in der besorgten Wählerschaft? Abgeordnete, die solche Fragen stellen, werden schnell zur Zielscheibe übler Verbalgeschosse, abgefeuert mit dem Gestus überschäumender Gesinnungsethik. Manch anorganischer Intellektueller (lange haltbar, ohne Kontakt zum Leben) ergänzt: Vergesst den Nationalstaat, schleift sofort alle Grenzen.

So schwankt die Partei zwischen eifriger Realpolitik und rebellischer Geste. So paart sich der Empirismus, der die Potenziale nicht sieht, mit dem Romantizismus, der heute will, was erst übermorgen sein kann. So werden Flucht und Vertreibung, innere und äußere Sicherheit zu Erregungszonen, die rationalem Kalkül nur bedingt zugänglich sind. Roger Willemsen hat in seinem Buch Das Hohe Haus beschrieben und geradezu euphorisch gewürdigt, dass die Linkspartei in deutlicher Abhebung von anderen Fraktionen exzellente Fachleute hat, die sich von Phrasen fernhalten und den Alltagssorgen zuwenden. Ihren Ruf als Sozialpartei hat sie sich redlich verdient. Längst fällig ist allerdings der nächste Schritt: Auf welcher Grundlage sollen Wohlstand und Sozialstaat künftig stehen?

Immer noch dominiert die Vorstellung, die ökonomische Maschinerie sei mit voller Last zu fahren, um ihre Verteilungsmasse zu maximieren. Die Linkspartei hat zwar ein Programm, das über weite Strecken den Geist ökologischer Erneuerung in sich trägt. In der Praxis allerdings ist sie voll dabei auf der dampfenden Titanic und bildet dort bestenfalls die Vereinigung kritischer Passagiere. Weniger Kronleuchter und bessere Mannschaftsdecks! Rettungsboote für alle! Beobachtungsposten doppelt besetzen! Das sind die Forderungen. Und manchmal ist noch zu hören: Die Reederei gehört in Besatzungshand! Aber kaum jemand spricht aus, was auch zu sagen wäre: Wir sind auf dem falschen Dampfer!

Her mit der Regierungsmacht

Noch betrachten zu viele den nötigen Systemwechsel nur gesellschaftlich, nicht im Verhältnis zur Natur. Den Vernichtungszügen des Kapitals den Salut zu verweigern, wird aber, wenn überhaupt, nur mit sozialen und gleichzeitig ökologischen Begründungen gelingen. Im Zeitalter von Klimawandel und Artensterben funktioniert kräftiges Rot nur im Einklang mit sattem Grün. Konsequente Umweltschützer wissen: die Bewahrung der Lebensgrundlagen verlangt Kooperation, Gleichheit und Vorsorge mit weitem Horizont, also eine Renaissance linker Zentralbegriffe.

Die Linkspartei wird erwachsen werden müssen, in der Breite der Themen und der Kultur ihrer Willensbildung. Dabei sollte klar sein: Es geht auch um Regierungsmacht. Wenn potenzielle Partner sich allerdings nur minimal bewegen, dann sind nicht Ministerien, sondern Oppositionsbänke der richtige Ort. Verbündet mit zivilgesellschaftlichem Engagement kann eine moderne und – wo immer nötig – auch radikale Partei viel erreichen. So könnte die Partei die Linke werden, die sie ihrem Namen nach schon ist.

Hans Thie war bis 2006 Redakteur beim Freitag. Heute ist er Wirtschaftsreferent der Bundestagsfraktion der Linkspartei

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