In diesem Jahr soll er kommen. Wann genau, weiß man nicht. An seiner Technik wird noch gefeilt, über sein Budget noch verhandelt. So nebulös die Details, so klar ist der Auftrag. Der große Unbekannte muss den Befreiungsschlag bringen - für den Markt der Märkte, der Wahlen entscheidet. Nach langen Diskussionen über verschiedene Modelle, nach Probeläufen in drei Bundesländern, vor allem aber wegen der aktuellen Daten, die sich in vier Wochen noch einmal verschlechtern werden, sieht sich die Bundesregierung offenbar gezwungen, ihn endlich einzuführen: den subventionierten Niedriglohnsektor, dieses hochgelobte, aber nie flächendeckend angewandte Werkzeug für die Beseitigung deutscher Beschäftigungsblockaden. In welcher Form auch immer sich Lohn und Zuschuss paaren werden, die Anzeichen verdichten sich, dass Rot-Grün hier ansetzen will, um noch einmal Entscheidungsfreude zu demonstrieren.
Natürlich wissen alle Beteiligten, dass eine große Offensive für das untere Ende der Beschäftigungspyramide bis zum September die Realität kaum noch ändern wird. Aber darum geht es auch nicht. Es geht allein um den Schein ökonomischer Kompetenz, dessen letzter Rest in der Rezession unterzugehen droht. Es ist schon tragisch: Nach dem Abgang Lafontaines ist Schröder den produzierenden Unternehmen und dem zinstragenden Kapital in den vergangenen drei Jahren so weit entgegengekommen wie kein deutscher Sozialdemokrat vor ihm. Und nun dieses Timing der Weltkonjunktur. Unpassend, ungerecht, mag Schröder denken.
Wäre er nicht nur fähig zu geschäftigem Treiben, sondern auch zu reflektiertem Tun, hätte der Kanzler allen Anlass, diese beiden Vokabeln auch auf seine Politik anzuwenden und in ihnen die Quittung zu suchen, die ihm in diesem Jahr droht. Ungerecht, unpassend.
Nach dem kurzen Duumvirat mit Lafontaine hat Schröder seine Zukunft in der Kontinuität zu Kohl, in der wirtschaftspolitischen Vergangenheit gefunden: Standortpflege durch unternehmensfreundliche Steuerpolitik, permanenter Mäßigungsappell an die Beschäftigten, Beschränkung öffentlicher Investitionen im Interesse einer schematischen Haushaltskonsolidierung, weitgehender Verzicht auf die anderenorts, in Dänemark, Schweden, in den Niederlanden erfolgreich umgesetzte Kombination von Flexibilität und sozialer Sicherheit. Natürlich gab es in den Randbereichen politischer Gestaltung den einen oder anderen Fortschritt wie etwa das verbriefte Recht auf Teilzeitarbeit. Auch das seit Jahresbeginn gültige Job-AQTIV-Gesetz wird positiv wirken. Aber von einem zeitgemäßen Sozialdemokratismus und auch von Schröders eigenem Begriff der Teilhabe-Gesellschaft ist kaum etwas zu erkennen.
Die Ergebnisse dieses Politikansatzes wären mäßig geblieben, selbst wenn der Wirtschaftszyklus sich dankbarer gezeigt hätte. Das bisweilen scheue Reh zur Krippe führen, dem Ungeheuer Beute versprechen, kurz: das Gewinninteresse hofieren - wer sich darauf beschränkt, begibt sich in eine selbst verschuldete Abhängigkeit von äußeren Umständen, die er nicht kontrollieren kann. Nur den Boden zu bereiten und auf den eigenen kreativen Auftritt ganz und gar zu verzichten, reicht nicht. Schon gar nicht für einen SPD-Politiker in einem Land, das sich zwar von Solidarprinzipien entfernt, aber sie nicht in Gänze aufgeben will und das im Interesse gesellschaftlicher Stabilität auch gar nicht kann.
Nicht nur ungerecht, sondern für die deutschen Verhältnisse auch unpassend ist der Versuch, real existierende Verkrustungen der privaten wie der öffentlichen Beschäftigung vor allem durch äußeren Druck und die Erweiterung des Pflichtenkatalogs aufbrechen zu wollen. Jeder Pädagoge weiß, dass negative Sanktionen allein wenig bewirken. Wo bleiben die neuen Freiheitsrechte im Arbeitsleben, die Wahlmöglichkeiten für die individuelle Gestaltung der Erwerbsbiografie, die sich mit neuen Pflichten verbinden ließen? Wo sind die fließenden Übergänge zwischen Beruf, Familie, Bildung und Freizeit, die in eigener Souveränität geplant und in sozialer Sicherheit gelebt werden? Wo sind die Kindergärten und Schulen, die eine ganztägige Betreuung anbieten? Wo sind die Universitäten, die sich als Anbieter beruflicher Weiterbildung profilieren? Chancen für ein Reformprojekt, das sich von konservativen Rezepten deutlich abhebt, hätte es reichlich gegeben.
Weil Schröder sie - ohne Visionen und ohne Mut - verpasste, geht er nun ohne Königskleider in das Wahljahr. Was bleibt ihm noch? Vielleicht die Hoffnung, dass sich mit der neuen Währung nicht nur die Rechengrößen, sondern auch die gewohnten Sparquoten seiner Wahlbürger halbieren. Das wäre gut für den Binnenmarkt, wird aber nicht passieren, weil in unsicheren Zeiten Konsumentscheidungen eher zurückgestellt werden. Vielleicht die Erwartung, dass die drastisch gesunkenen Zinsen und die vermehrten Staatsausgaben sich in den USA früher als bisher absehbar zu einem Aufschwung verdichten. Das wäre gut für den Export, wird aber selbst im günstigsten Fall die deutschen Beschäftigungszahlen in diesem Jahr kaum noch beeinflussen. Schröder wird seine Kompetenz also wieder da finden müssen, wo man sie ihm nicht bestreiten kann, nicht im Ökonomischen, sondern im Medialen. Ein virtueller König - kostümiert auf dem Bildschirm, nackt in der Wirklichkeit.
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