Viel für die Seele, wenig für den Kopf

PDS-Sonderparteitag Die einen bleiben mit irrealen Visionen in den Wolken, die anderen mit radikalem Realismus im Sumpf

Gleich zu Beginn wurde der Vorhang weit aufgerissen. Hans Modrow, Ministerpräsident der DDR in der Wendezeit und heute Ehren-Vorsitzender, verlangt "revolutionäres Denken und Handeln mit antikapitalistischem Charakter". Stefan Liebich dagegen, der smarte Berliner Landesvorsitzende, hat "keine Lust auf eine PDS, die sich die Bundesrepublik wie eine verbesserte DDR zusammenträumt". Der eine, der alte, verliert keinen einzigen Satz über das, was denn ein kräftiger oppositioneller Kurs der PDS inhaltlich bedeuten könnte. Der andere, der junge, spricht ausschließlich über Kürzungen im Sozialetat, über uneinsichtige Gewerkschaften und über die "bittere" Realität des Haushaltsnotstands, dem sich die PDS im Berliner Senat zu stellen habe. Der eine bleibt mit seinen irrealen Visionen in den Wolken, der andere mit seinem radikalen Realismus im Sumpf. Diese unsinnige Konfrontation unfruchtbarer Standpunkte aufzuheben, einer lohnenden Auseinandersetzung über große und kleine, in jedem Fall aber irdische Schritte zumindest näher zu kommen, wäre die Aufgabe dieses Parteitages gewesen. Daran gemessen, hat die PDS keinen Fortschritt erzielt, sondern bestenfalls die Symptome ihrer Krise kaschiert.

Im Anschluss an Modrow und Liebich traf die abgelöste Vorsitzende Gabi Zimmer genau jenen Ton, der nicht geeignet ist, das alte Schisma zwischen Systemkritik und Reform, zwischen hehren Zielen und banaler Handwerkelei, produktiv, das heißt unter konkretem Bezug auf das Hier und Heute, den Delegierten zu präsentieren. Statt dessen kam ein entschiedenes und eben deshalb nicht politikfähiges Sowohl-Als-Auch, garniert mit gruppentherapeutischen Vokabeln. Die ersten Stunden im Kreuzberger Tempodrom verloren sich dann auch in diversen Varianten der Versöhnungslyrik - Balsam für die Seele, aber zu wenig für den Kopf. Denn was nützen all die Appelle an Gründungskonsens und Pluralismus, wenn die einen den Rubikon für überschritten halten und die anderen meinen, man müsse bereit sein, in das kalte Wasser einer überschuldeten Stadt zu springen?

So wurde die Regierungsbeteiligung in Berlin doch noch und völlig zu Recht zum beherrschenden Thema. Wie können wir Flächentarifverträge glaubhaft verteidigen, wenn das Land Berlin mit PDS-Zustimmung aussteigt und damit ein Exempel statuiert, auf das sich die Konservativen in Bayern und Baden-Württemberg genüsslich berufen können? Was sollen Sympathisanten und Wähler von uns halten, wenn wir eine Grundsicherung fordern und in Berlin die Sozialleistungen gekürzt werden? Wie überzeugend kann unsere Bildungspolitik noch sein, wenn PDS-Senatoren die Lernmittelfreiheit abschaffen und mit der Erhebung von Studiengebühren beginnen? So die Fragen jener, die sich um ihre besten Argumente betrogen fühlen. Wir haben immer wieder den Gewerkschaften angeboten, die Lohnsteigerungen, die das Land Berlin nicht verkraften kann, in Arbeitszeitverkürzungen zu verwandeln und fünf Jahre lang auf betriebsbedingte Kürzungen zu verzichten. Wir verlangen Geld für die Schulbücher nur von denen, die es sich leisten können. Und von Studiengebühren kann keine Rede sein, weil es nur darum geht, Langzeitstudenten künftig zur Kasse zu bitten. So die Antworten der Senatoren Harald Wolf, Heidi Knake-Werner und Thomas Flierl, die verzweifelt um Verständnis bitten.

Überfällig ist offenbar ein weiterer Sonderparteitag mit einem einzigen Thema. Um den Sprengsatz zu entschärfen, der die Partei auch künftig zu zerreißen droht, wird sie sich intensiv mit der Regierungsbeteiligung in Berlin befassen müssen. Erst wenn allen Beteiligten klar geworden ist, auf welcher miserablen Basis die Senatoren und Abgeordneten in Berlin handeln und was angesichts dieser Restriktionen von ihren Kompromissen mit der SPD zu halten ist, und wenn andererseits den Berlinern deutlich vor Augen steht, was ihre Politik für den Rest der Partei bedeutet, kann es einen ergebnisoffenen Streit geben, der über wechselseitige Anklagen hinausgeht. Vielleicht ist aber die PDS dafür auch noch nicht reif. Ob der neu gewählte Vorstand, dessen zentrales Anliegen es sein müsste, nach dem Personalwechsel die inhaltliche Klärung voranzutreiben, dem gerecht werden kann, ist zumindest fraglich. Es mangelt an Schwergewichten, die in den Niederungen parlamentarischer Arbeit und bei der anstehenden Programmdebatte ihren strategischen Kopf hoch halten.

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