Volle Fahrt in die Gegenwart

RÜCKBLICK AUF DEN TOTALEN KONSENS Drei Quellen und drei Bestandteile einen die rot-grün-schwarz-gelbe Wirtschafts- und Sozialpolitik

Eine Idee hat dann vollständig gesiegt, wenn sie auch bei ihren ehemaligen Gegnern zur selbstverständlichen Voraussetzung des Denkens geworden ist. Anfang der siebziger Jahre bestätigte US-Präsident Richard Nixon diese alte Erfahrung, als er, der jahrzehntelang eine an der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage orientierte Wirtschaftspolitik abgelehnt hatte, der staunenden Weltöffentlichkeit verkündete: »Now we are all Keynesians.« Heute ist die Zeit der großen Worte und Ideen längst vorbei. Der Spruch, der nach dem historischen Steuer-Beschluss des Bundesrates so schön gepasst hätte, blieb aus. "Jetzt sind wir alle Neoliberale« - das hat Gerhard Schröder selbstverständlich nicht gesagt. Tatsächlich aber ist - nach langen Jahren der permanenten Debatte über Steuern, Renten, Globalisierung und Sozialstaat - mittlerweile ein breiter Konsens entstanden. Wirtschafts- und sozialpolitisch brechen oppositionslose Zeiten an. Die verzweifelten Versuche der CDU, handwerkliche Fragen zum nationalen Thema zu machen, wirkten zum Schluss nur noch lächerlich. Woher kommt dieser merkwürdige Konsens und was sagt er uns? Frei nach Lenin könnte man sagen, er hat drei Quellen und drei Bestandteile.

Die erste Quelle ist die nackte Lüge. Weil das so schrecklich propagandistisch klingt, wagt man kaum, es auszusprechen. Aber es ist so. Der jahrelang medial inszenierte Vierklang »Zu hohe Steuern und Abgaben = schrumpfende Gewinne = kaum Investitionen = hohe Arbeitslosigkeit« ist in nahezu allen öffentlichen Debatten zum Ausgangspunkt der Überlegungen geworden. Dabei hat selbst die OECD in ihren internationalen Steuervergleichen immer wieder darauf hingewiesen, dass die reale Steuerbelastung der deutschen Unternehmen weit unter dem Durchschnitt der entwickelten Industrieländer liegt. Bereits die alte Bundesregierung hatte dafür gesorgt, dass sich die Kapitalseite weitgehend aus der ehemals halbwegs paritätischen Finanzierung öffentlicher Aufgaben verabschieden konnte. Steuerstatistisch leben wir längst in einem Staat der Lohnabhängigen. Eine tatsächlich an Gerechtigkeit und Ausgleich interessierte Bundesregierung könnte daraus den Schluss ziehen: Wer zahlt, bestimmt die Musik. Rot-Grün praktiziert das Gegenteil, setzt die alte Linie fort und bezieht sich, um ihr Projekt zu verkaufen, nur auf die nominellen Steuersätze, die im internationalen Vergleich tatsächlich hoch sind, aber eben aufgrund großzügig gewährter Bilanzierungs- und Abschreibungsfreiheiten mit der tatsächlich gezahlten Steuer wenig zu tun haben.

Die zweite Quelle ist der kollektive Rückzug der Politik in die Froschperspektive. Es ist Mode geworden, nahezu jede wirtschaftliche und soziale Frage aus der einzelwirtschaftlichen Sicht zu betrachten. Dass der einzelne Unternehmer, der einzelne Lohnabhängige, der einzelne Steuerzahler dies tut, liegt in der Natur der Sache. Politik muss diese Interessen berücksichtigen, vor allem aber das Gemeinwohl definieren und durchsetzen, auch gegen mächtige Gruppen der Gesellschaft, wie dies zuletzt Lafontaine mit seinen beiden Staatssekretären versuchte. Nach deren Rückzug traut sich offenkundig niemand mehr, das enge Korsett einer auf Wirtschaftsförderung reduzierten Politik zu verlassen.

Dafür sorgt schon das unmittelbare Interesse derjenigen, die öffentlich eine Stimme haben. Hier ist die dritte große Konsensquelle zu vermuten: So gut wie alle, die sich medial äußern, sind durch die Last des Spitzensteuersatzes miteinander verbunden. Das Eintrittsticket für Talkshows verlangt ein Jahresgehalt von mindestens 200.000 Mark, meist weit darüber. So spricht dann Sitzensteuersatz Christiansen mit Spitzensteuersatz Henkel und Spitzensteuersatz Schröder über die Nichtfinanzierbarkeit der Sozialsysteme. Wo gibt es noch jemanden, der öffentlich bekundet, das Pendant meiner Steuern sind öffentliche Sicherheit, Bildung, Chancengleichheit und Umweltschutz?

Wo die Lüge hingenommen wird, wo die Froschperspektive des einzelwirtschaftlichen Akteurs das Denken und die ungerechte Behandlung der Leistungsträger das Wollen bestimmt, da musste sich doch irgendwann ein Konsens ergeben. Der ist jetzt da. Seine drei Bestandteile sind zwischen SPD, CDU, Grünen und FDP unstrittig. Mit einer satten Mehrheit von 95 Prozent wurde stillschweigend eine grundlegende Veränderung der Wirtschafts- und Sozialverfassung der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.

Erster Grundsatz: Nicht Kanzler und Regierung, sondern die Kapitalmärkte bestimmen die Richtlinien der Politik. Was verlangen die Kapitalmärkte? Hohe Realzinsen, Null-Inflation, solide Schuldner und keinerlei Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Gute Politik muss sich, darüber herrscht Einverständnis, diesen Kriterien beugen und damit auf jeden eigenständigen Ansatz, etwa für Beschäftigung zu sorgen, verzichten. Auch wenn an der Basis von SPD und Grünen immer wieder mal die Forderungen nach einem ökologischen Umbau der Industriegesellschaft aufleben, an der Spitze beider Parteien sind solche Gedanken tot. Politik ist Erfüllungsgehilfe der Wirtschaft und darf im besten Fall hoffen, dafür belohnt zu werden.

Zweiter Grundsatz: Die steuerliche Entlastung erfolgt proportional zur finanziellen Leistungsfähigkeit. Die alte Maxime »Belastung nach der Leistungsfähigkeit« wird in der beschlossenen Steuerreform auf den Kopf gestellt. Hohe Einkommen werden stark, niedrige Einkommen werden schwach entlastet und Transfereinkommen werden nach Kassenlage, also in der Regel schlechter bedient. Einkommensmillionäre können künftig ein Plus von 60.000 bis 80.000 DM verbuchen, niedrige Einkommen immerhin noch ein paar Tausender. Indem Rot-Grün die unteren Einkommen mit ins Entlastungsboot genommen hat, kann die Koalition den Schein einer durchgehenden Besserstellung aller Bürger konstruieren und der Opposition den Wind aus den Segeln nehmen. CDU und FDP waren mit ihren Steuerpakten ja nicht nur an der SPD-Blockade, sondern auch daran gescheitert, dass sie die Spitzen der Gesellschaft zu offensichtlich bevorzugten. Sie haben nun von Rot-Grün gelernt, dass man die Massen ins Reich der Steuersenkung mitnehmen muss, zumindest soweit sie Beschäftigung und eigenes Einkommen haben. Der erwerbslose Rest bleibt außen vor, auch das ist unstrittig.

Dritter Grundsatz: Soziale Sicherung nach dem Solidarprinzip hat keine Zukunft. Auch wenn über die Einzelheiten der künftigen Rentenfinanzierung im Herbst noch gestritten wird, sind die Abkehr von der 50-50-Finanzierung durch Unternehmen beziehungsweise Beschäftigte und der Aufbau einer privaten Vorsorge-Säule längst unstrittig. Einmal in Gang gesetzt, wird dieser Zug an Fahrt gewinnen. Dafür spricht nicht nur die demographische Entwicklung, die als Abrissbirne der sozialen Rente herhalten muss, sondern auch die weitere Verschiebung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen - ein Faktum, das in der von Spitzensteuer-Entertainern beherrschten öffentlichen Debatte selbstverständlich keine Rolle spielt. Bestanden 1980 nur 25,5 Prozent des privat verfügbaren Volkseinkommens aus Einkünften, die aus Unternehmertätigkeit und Vermögen resultieren, so ist dieser Anteil bis heute auf mehr als 40 Prozent angestiegen - Einkünfte also, die an der Finanzierung sozialer Sicherung nicht teilnehmen. In absehbarer Zeit wird zumindest in diesem Punkt Parität erreicht sein. Proportional steigen in der Welt der Lohnabhängigen die Anreize, aus dem Solidarsystem auszusteigen. Mit einem sinkenden Anteil am Kuchen immer mehr Rentner zu finanzieren, macht schließlich aus der individuellen Perspektive keinen Sinn, vor allem dann nicht, wenn aufgrund diskontinuierlicher Erwerbsbiographien kaum noch jemand Anwartschaften erreicht, die dem statistischen »Eckrentner« mit 45 Berufsjahren zustehen. Fazit: Der Eckrentner ist tot, es lebe der rot-grün-schwarz-gelbe Eckpolitiker, der sich darauf beschränkt, in der Wirtschaft für gute Stimmung zu sorgen.

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