Washingtons Mantra

Sachbuch Aus dem Innenleben des IWF - Nobelpreisträger Joseph Stiglitz verwandelt unsere groben Vermutungen in eine detaillierte Anklageschrift

In einem sind sich die Bürokraten dieser Welt einig: Professoren sollte man niemals sensible Posten in wichtigen Organisationen überlassen. Im Dienst sind sie nicht zu harten Entscheidungen fähig und danach plaudern sie rechthaberisch über das, was sie erfahren haben. Deshalb gibt es in den USA eine Maxime für die Auswahl politischen Personals: "Experts should be on tap, but not on top." Experten sollte man wie einen Wasserhahn auf- und zudrehen können, aber niemals an die Spitze bringen. Nur manchmal kommt man an ausgewiesenen Akademikern nicht vorbei - zum Beispiel wenn es um den Chefvolkswirt im Beraterstab des amerikanischen Präsidenten geht oder wenn die gleiche Funktion bei der Weltbank zu besetzen ist. Nun sind die meisten Ökonomen in der heutigen Zeit dem absoluten Vorrang von Markt und privatem Eigentum ergeben, ohne Verständnis für die Institutionen, in die Märkte eingebettet sein müssen, wenn sie funktionieren sollen, und ohne Herz für die Folgen ihrer Empfehlungen. Insofern ist die Gefahr, sich einen Querkopf ins Haus zu holen, ziemlich gering. Um so erstaunlicher ist, dass Joseph Stiglitz nacheinander in beide Positionen berufen wurde: zunächst von Clinton und danach vom Weltbank-Präsidenten James Wolfensohn.

Bereits während seiner Dienstzeit war Stiglitz ein Ärgernis für das Finanz-Establishment. Zunächst in vertraulicher Runde und später auch mit kritischen Analysen im Internet unterstützte er Regierungen, die sich an den Interessen ihrer Länder orientierten und nicht an den wirtschaftspolitischen Auflagen, die Washington verlangte. Ins akademische Leben zurückgekehrt, macht Stiglitz nun ebenfalls genau das, was verschwiegene Bürokraten von Professoren erwarten: er redet. Und nicht nur das: Sein Buch ist in weiten Teilen eine Anklageschrift, die man Attac-Aktivisten oder kritischen Sozialwissenschaftlern zutrauen würde, aber kaum einem Ökonomen, der jahrelangen Zugang zum US-Präsidenten hatte und danach in der Chefetage der Weltbank saß. Mit der Autorität unmittelbarer, eigener Erfahrung und mit der Weihe des Nobelpreises, den Stiglitz im vergangenen Jahr erhielt, beschreibt er nicht nur die "Schatten der Globalisierung", sondern nennt immer wieder die Verantwortlichen: den Internationalen Währungsfond (IWF) und das US-Finanzministerium, das für die USA - als größten Anteilseigner des IWF - die Richtlinien der internationalen Wirtschaftspolitik bestimmt. "Das Versagen des IWF" wäre wohl der passendere Titel gewesen.

Was aus dem Munde eines jungen, romantischen Rebellen wie eine hohle Phrase klingt, ist mit diesem Buch des berufenen Zeugen Stiglitz eine Anklage, die schwer zu widerlegen ist: Für die Armen dieser Erde ist der IWF eine Katastrophe. Aus einem Kreditgeber für Notfälle ist eine arrogante Ersatzregierung geworden, die den kleinen und schwachen Ländern des Südens Bedingungen diktiert, die fast nie mit ihren eigenen Interessen übereinstimmen. Stiglitz scheut sich nicht, die IWF-Emissäre mit NATO-Piloten zu vergleichen: "Von seinem Luxushotel aus kann man gefühllos Konditionen auferlegen, über die man zweimal nachdächte, wenn man die Menschen kennen würde, deren Leben man zerstört."

Wie ist die Politik des IWF zu erklären? Weshalb werden Kredite, die vorübergehende Zahlungsprobleme beheben sollen, an die Öffnung von Märkten, an die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, an die Privatisierung von Unternehmen und ausgeglichene öffentliche Haushalte gebunden? Warum werden Hilfen nur gewährt, wenn die Bittsteller sich bereit erklären, nationale Entwicklungsstrategien und damit ihre Souveränität aufzugeben?

Stiglitz nennt zwei Gründe: den Dogmatismus der IWF-Bürokraten, die dem Markt alles, aber den Staaten nichts zutrauen und die Interessen der "Financial community" des Nordens, die vermittelt über die G7-Finanzminister den IWF beherrscht. Was der interessierte Laie ohne Kenntnis der internen Entscheidungsfindung nur vermuten kann, wird mit diesem Buch transparent und nachvollziehbar. In Washington werden Auflagen formuliert, die einem Mantra folgen und nicht einer sorgfältigen Analyse der Besonderheiten des jeweils betroffenen Landes. Stiglitz nennt Länderberichte des IWF, die sich bis in einzelne Formulierungen gleichen, und er beschreibt eine administrative Praxis, bei der etwa Äthiopien eine Rüge erhält, weil es den Kredit für ein Flugzeug vorzeitig zurückzahlte. Der Fehler dieses souveränen Landes: Es hatte den IWF nicht gefragt.

Bei wirklich wichtigen Fragen - auch das illustriert Stiglitz am Beispiel einzelner Entscheidungen - kommt an dem faktischen Vetorecht der USA niemand vorbei. So hat der IWF auf Drängen der Amerikaner die Asienkrise nicht nur dadurch befördert, dass er Thailand, Indonesien und Südkorea zu einer überzogenen Liberalisierung des Kapitalverkehrs nötigte, sondern auch sinnvolle Reaktionen auf den plötzlichen Kursverfall einiger asiatischer Währungen verhindert. Das Angebot Japans, einen "Asiatischen Währungsfonds" mit 100 Milliarden Dollar auszustatten, um die wirtschaftliche Talfahrt in Südostasien zu stoppen, boykottierte der IWF nach einer entschiedenen Intervention des US-Finanzministers Robert Rubin, der vor seiner Regierungszeit Chef der Investmentbank Goldman Sachs gewesen war. Der japanische Vorschlag hätte den Menschen in Asien viel Leid ersparen können, aber er war eben nicht kompatibel mit dem Interesse der Wall Street an einem einheitlichen, vor allem von den USA kontrollierten IWF.

Neben der Asienkrise, deren Voraussetzung und Verlauf Stiglitz nachzeichnet, gehören die Transformationen Russlands und Chinas zu den Schwerpunkten des Buches. Die Unterschiede zwischen beiden Ländern - Wachstum und erfolgreiche Armutsbekämpfung in China, Chaos und Mafia-Kapitalismus in Russland - sind für Stiglitz nicht allein, aber doch zum beträchtlichen Teil auf das Verhalten gegenüber den Forderungen des Westens zurückzuführen. Während sich China weigerte, das Land vorschnell zu öffnen, war Russland der Musterschüler, der die vom IWF empfohlene Schocktherapie annahm. Die Ergebnisse kann auch der nüchtern und bisweilen zu weitschweifig abwägende Stiglitz nur noch zynisch kommentieren: Die Privatisierung war ein Raubzug, mit der Liberalisierung wurde die Beute ins Ausland gebracht und mit dem weitgehenden Rückzug des Staates hat die verarmte Bevölkerung ihren letzten Schutz verloren. Und so landeten die Mitte 1998 zur Stützung des Rubel an Russland gezahlten Dollarmilliarden binnen weniger Tage auf schweizerischen und zypriotischen Konten.

Josph Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt, Siedler Verlag, Berlin 2002, 303 S., 19,90

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