Wolkiges Manifest

Zum Programmentwurf der PDS Wer den Pfad der Tugend nur beschwört, aber auf eine eigene Reisebeschreibung verzichtet, hat gegen die neoliberale Offensive keine Chance

Wenn man nach dem bekanntem Lehrsatz der Klassiker die Praxis als Kriterium der Wahrheit gelten lässt, dann ist der neue Programmentwurf der PDS von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn dort, wo es zum Schwur kommt, etwa im rot-roten Berliner Senat, praktizieren die PDS-Senatoren ziemlich genau das Gegenteil dessen, was der Programmentwurf verlangt. So intensiv sich der Text mit Vergangenheit und Zukunft auseinandergesetzt, so hartnäckig schweigt er, wenn es um die Schizophrenie in der parlamentarischen Gegenwart geht.

Drei Beispiele illustrieren das Dilemma. Programmatisch heißt es im Text: "Wo die parlamentarische Demokratie gegen die Macht und Interessen der Banken, Anlagefonds und Konzerne und ihren antiparlamentarischen Lobbyismus verteidigt wird, werden die Mitglieder der PDS ebenso zu finden sein wie bei der Verteidigung und Wiedergewinnung kommunaler Selbstverwaltung gegen ihre finanzielle und politische Strangulierung." Welchen Wert hat dieser Satz, wenn die Senatoren und Abgeordneten der PDS einer auf 30 Jahre angelegten Verpfändung von Steuergeldern zu Gunsten von Immobilienspekulanten zustimmen, wie im April vergangenen Jahres bei der sogenannten Risikoabschirmung der Bankgesellschaft Berlin geschehen?

An anderer Stelle steht im Programmentwurf: "Die fortschreitende Privatisierung von öffentlichem Eigentum und damit von öffentlicher Verfügungsmacht lehnen wir ab." Was soll man von dieser Ablehnung halten, wenn Kultursenator Thomas Flierl die Staatsoper an US-Spekulanten verleast? Und ein drittes Beispiel: "Wir wollen eine Sozialpolitik, die den solidarischen Charakter der sozialen Sicherungssysteme verteidigt und ausprägt und sich mit den Wünschen der Menschen nach Verwirklichung ihrer individuellen Lebensentwürfe verbindet." Wie glaubwürdig ist diese Forderung, wenn Sozialsenatorin Knake-Werner alleinerziehenden Müttern mit behinderten Kindern die Unterstützung streicht?

Einen solchen Vergleich von Programm und Praxis mag man mit gewissem Recht als boshaft bezeichnen. Denn in Berlin ist die PDS nicht nur der kleine Koalitionspartner, sondern auch mit dem Erbe des CDU-SPD-Sumpfes konfrontiert. In der Zwangsjacke des Berliner Haushalts müsste jede Partei, die mitregieren will, zu vielen kleinen und einigen großen Schweinereien bereit sein. Was allerdings bei der FDP und den Grünen durchgehen mag und vielleicht sogar honoriert wird, kann für die PDS schnell zum Todesurteil werden, weil die Wähler davon laufen und die einfachen Mitglieder nur noch den Kopf schütteln. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ist einfach zu grotesk.

In dieser vertrackten Situation wäre ein Programm nötig, das die Ziele, Werte und Visionen der PDS zu den heutigen Restriktionen politischen Handelns ins Verhältnis setzt. Die Autoren scheinen sich der Aufgabe bewusst zu sein, dass die Partei sowohl visionäre als auch praxistaugliche Politikansätze braucht. Denn nach langen Passagen über "unsere sozialistischen Ziele und Werte", über "unseren sozialistischen Weg" und über den Zustand der gegenwärtigen Welt heißt es: "Mit diesem Parteiprogramm wollen wir konkrete Maßstäbe und Orientierungen für die Entwicklung solcher Projekte formulieren." Konkrete Maßstäbe und Orientierungen?

Der geneigte Leser dürfte nun erwarten, dass Frieden, Freiheit, soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, Teilhabe, Nachhaltigkeit, Demokratisierung, dass all diese Ziele so übersetzt werden, dass die Mitglieder und Mandatsträger der Partei in der öffentlichen Auseinandersetzung bestehen können. Schlüssige Antworten auf naheliegende Fragen aber sucht man vergebens. Mit welcher Steuerpolitik gehen die demokratischen Sozialisten ins Rennen? Welche Prioritäten setzt die Partei, wenn der Zustand der öffentlichen Kassen auf absehbare Zeit nicht alles, was gut und wünschenswert wäre, zulässt? Mit welcher Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik soll die Arbeitslosigkeit beseitigt werden? Wie kann soziale Sicherheit in einer alternden Gesellschaft gesichert werden? Was ist zu tun, damit die Ökologisierung von Wirtschaft und Gesellschaft gelingt?

Statt die Kluft zwischen Theorie und Praxis mit Konzepten zu schließen, die zumindest näherungsweise den Weg beschreiben, der beschritten werden soll, wird ein bunter Strauß linker Forderungen geboten. Vermögenssteuer, Grundsicherung, Wertschöpfungsabgabe, öffentlich geförderte Beschäftigung, Mindestlöhne, scharfe Kartell- und Umweltgesetze, Gewaltfreiheit in den internationalen Beziehungen - nichts, was gut und richtig ist, fehlt. Wie mit diesen Zutaten ein genießbares Mahl entstehen kann, bleibt allerdings offen. Die Vorstellung, Großunternehmen und vermögende Bürger kräftig zu melken, damit der Rest der Gesellschaft sich einer umfassenden öffentlichen Daseinsvorsorge erfreuen darf, ist allzu simpel, um den Realitäten der öffentlichen Haushalte und den Interessen einer ausdifferenzierten bürgerlichen Gesellschaft gerecht zu werden. Wer jeden Wunsch erfüllen will, sollte dann auch klar sagen, was das bedeutet: eine drastische Umverteilung von der privaten zur gesellschaftlichen Konsumtion. Mit anderen Worten: Ein steiler Anstieg der Steuer- und Abgabenquote auch für den Durchschnittsbürger.

Diese unpopuläre Schlussfolgerung vermeiden die Autoren verständlicherweise. Sie hoffen, dass mehr Demokratie, mehr Transparenz und weniger Bürokratie auch zu Effizienzgewinnen im öffentlichen Sektor führen. Sie setzen ganz auf die Vernunft des Bürgers und vergessen vollständig, dass eine Erweiterung des Katalogs politischer und sozialer Zugangschancen auch mit zusätzlichen Pflichten verbunden sein müsste. Auch wenn New Labour, Neue Mitte und New Democrats mit ihren Konzepten des Forderns und Förderns den Begriff sozialer Pflichten missbrauchen, heißt das nicht, dass demokratische Sozialisten auf eine Position zu diesem Problem verzichten sollten. Wer an dieser Stelle schweigt, setzt sich dem Verdacht aus, dass unter dem schönen Mantel der Emanzipation, der Vernunft und der Solidarität letztlich nichts anderes als steckt als der fürsorgliche Versorgungsstaat.

Wenn, wie geplant, aus dem vorliegenden Entwurf bis zum Parteitag der PDS im Oktober ein brauchbares Programm werden soll, hat die Partei noch einiges zu tun. Vor allem müsste sie sich aus der Froschperspektive des nach oben schauenden Wünschens, Forderns und Begehrens befreien und sich hart mit der Frage auseinandersetzen, wie ein ehrgeiziges Transformationsprojekt mit der rauhen Wirklichkeit verbunden werden kann. Wer den Pfad der Tugend nur beschwört, aber auf eine eigene Reisebeschreibung verzichtet, hat gegen die neoliberale Offensive keine Chance.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden