"Wenn die neuesten SPD-Katastrophenmeldungen über den Bildschirm flimmerten, dann habe ich die Glotze einfach ausgeschaltet", sagte grimmig der mittelständische Unternehmer und SPD-Ortsvereinsvorsitzende Winfried Glaser aus dem rheinland-pfälzischen Remagen-Oberwinter. Jetzt, da sein Ministerpräsident Kurt Beck zum SPD-Bundesvorsitzenden wurde, schaltet er das Gerät schon wieder einmal ein, ist aber mit dem Start von "König Kurt" recht unzufrieden. Bei der Steuerdebatte habe der sich doch schon beim Start "verdribbelt" - das richtige Thema, aber der falsche Zeitpunkt. "Meine Partei und damit auch Kurt Beck waren doch dafür mitverantwortlich, dass die Konzerne jahrelang keine Steuern zahlten und Milliardenbeträge in Uraltbranchen sowie überflüssige Rüstungsprojekte versenkt wurden."
Der Hammer in der Hand
Trotz seiner unverkennbaren Skepsis hofft Glaser darauf, der neue Bundesvorsitzende werde die Kraft und den Mut aufbringen, in der Öffentlichkeit über die Tagespolitik hinaus wieder die richtigen Fragen zu stellen, um eine Debatte über Deutschlands Zukunftsfähigkeit anzustoßen. Es gehe um einen Grundkonsens in der Arbeitsgesellschaft, die den Sozialstaat als ein wichtiges europäisches Kulturgut begreift.
Ob freilich der rheinland-pfälzische Ministerpräsident der richtige Mann ist, den überfälligen Dialog über die Rolle von Individuen, Staat, Parteien, Wirtschaft und Medien zu inspirieren, bleibt offen. Seit Willy Brandt sind fast alle sozialdemokratischen Vorsitzenden an ihrem autokratischen Führungsstil gescheitert - häufig genährt von opportunistischen Einflüsterern und Medien, die eine unzeitgemäße "Stärke" forderten. Die Zeit, in der August Bebel davon sprach, die Partei müsse der Hammer in der Hand des Vorsitzenden sein, ist endgültig vorbei. Aber schon wieder stürmen die selbsternannten Vertrauten aus der SPD-Zentrale, der Bundestagsfraktion und der rheinland-pfälzischen Landesvertretung die Redaktionsstuben der politischen Korrespondenten in Berlin-Mitte, um ihren neuen Boss als "geduldigen", "leutseligen", "bodenständigen", ja sogar "visionären Volkspolitiker" zu preisen. Kein Tag in Berlin vergeht, ohne dass diese Stichwortgeber versichern, nur "der Kurt" könne die Probleme "stemmen". Erinnern wir uns: Dem "Münte-Mythos" folgte ein "Platzeck-Aufbruch".
Auf den distanzierten Beobachter wirkt es so, als ob hier nur die Fallhöhe für den 23. Vorsitzenden der 143 Jahre alten SPD angehoben wird. Viel ehrlicher und damit auch hilfreicher für ihn sind die Kolportagen aus internen Sitzungen, in denen Beck mit bemerkenswertem Mangel an Gelassenheit Andersdenkende runterputzte. Diese Seite seines Charakters beschreibt die unter einigem Anpassungsdruck stehende rheinland-pfälzische Bundestagsabgeordnete Andrea Nahles: "Richtig schwierig wird das mit dem Kurt Beck nur in zwei Fällen. Erstens, man ist anderer Meinung als er. Zweitens, der 1. FC Kaiserslautern verliert". Sie bezeichnet ihn dann als einen "Buddha mit Sprengsatz". Und der ehemalige Chefredakteur der Rhein-Zeitung aus Koblenz, Martin Lohmann, registriert, dass der "begnadete Populist" richtig "böse" werden kann, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. "Dann ist zu erahnen, dass in seinem Inneren ein ungeduldiges Temperament regelrecht glüht und kocht."
Becks angestrengte Rhetorik belegt, dass der jovial wirkende Landesvater anders als Helmut Kohl ein Dünnhäuter ist. Brachliegende Energien, gepaart mit Sensibilität, müssen für einen Parteiführer keine schlechten Eigenschaften sein, wenn es darum geht, Partei und Staat zu modernisieren und um die richtigen Lösungen zu kämpfen. - Progress begins at home oder anders ausgedrückt: Das schafft er nur mit und nicht gegen die politische Willensgemeinschaft SPD.
400.317 Mitglieder verloren
Seit Willy Brandt 1976 das 1.000.000ste Mitglied, Karin Fahrenkamp aus der Eifel, ehrte, hat die SPD 400.317 Mitglieder verloren. Besonders dramatisch war die Erosion in der Amtszeit von Kanzler Schröder: Von Oktober 1998 bis April 2006 gaben 187.421 Mitglieder ihr Parteibuch zurück. Erschwerend wirkt die dramatische Überalterung. Der Anteil an jungen Mitgliedern sackte auf den Tiefstand von unter zehn Prozent. Eine intellektuell diskutierende Linke gibt es in der Partei nicht mehr. In Scharen liefen junge SPD-Mitglieder anfangs zu den Grünen, in jüngster Zeit, aus dem gewerkschaftlichen Kernmilieu der SPD in den westlichen Bundesländern, zur WASG über. Der Träger des alternativen Nobelpreises und SPD-Präside Hermann Scheer sieht als Ursache für den Niedergang den "Glaubwürdigkeitsverlust der SPD und einen eklatanten Mangel an innerparteilicher Demokratie".
Ein weiteres Problem: Die großen Parteien sind heute parastaatliche bürokratische, unbewegliche Monsterorganisationen. Ihre Vertreter hocken zumeist ohne Kontakt mit der Debatte an der Basis in allen öffentlich-rechtlichen Institutionen von der Kommune bis zum Bund. Vom Hausmeisterposten an Schulen bis in die Vorstände der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute wird alles in kleinen Zirkeln ausgemauschelt. Der spärliche Nachwuchs mit Parteibuch sichert sich schon im Studium über die Partei irgendeinen politischen Assistentenjob und steigt dann langsam im Netzwerk (früher: Filz) bis zu den Spitzenämtern hinauf. Die zwei ehemaligen Büroleiter - Außenminister Steinmeier und der Wahlverlierer von NRW, Finanzminister Steinbrück - sind nur zwei Beispiele von vielen. In den Parteien rangiert Wohlverhalten vor Qualifikation, Kreativität macht verdächtig. Von diesen in den politbürokratischen Treibhäusern herangezüchteten Eigengewächsen ist - von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen - keine Zivilcourage zu erwarten. Die aber ist notwendig, da in einer gerechten Republik von allen Schichten Opfer gebracht werden müssen. Eine auf das Reagieren abgemagerte Politik reicht nicht.
Für das Siechtum der SPD ist die so genannte Enkelgeneration inklusive Oskar Lafontaine gemeinsam verantwortlich. Statt eine redliche Gesellschaftsbilanz nach der Regierung Kohl für die Öffentlichkeit zu ziehen, haben die Enkel Willy Brandts die ökonomischen Zeichen der Zeit verschlafen und die Sozialdemokratie als Spielwiese für ihre Diadochenkämpfe privatisiert. Ihr Hauptfehler war, die Partei nicht auf die neuen Realitäten der Globalisierung vorzubereiten und mit in die Verantwortung zu nehmen. Sie hätten bei Helmut Schmidt anknüpfen können - der ließ während seiner Kanzlerschaft bereits in den siebziger Jahren über das Bundespresseamt die Globalisierung erläutern. Slogan: "Hemden, die wir aus Indien kaufen, sichern den Absatz deutscher Textilmaschinen."
Aber der Enkel Schröder reagierte immer nur auf Konflikte und Konstellationen mit einer auf reine Taktik fixierten Politik. In Berlin herrschte über Jahre hektischer Stillstand. Schröders Fehlurteil, dass mit Programmen keine Wahl zu gewinnen sei, rächte sich bitter. Die Partei blieb orientierungslos. Die rot-grüne Bundesregierung funktionierte folglich als Reparaturkolonne und kompensierte ihre Schwäche mit Forderungen wie der nach einem Sitz im Weltsicherheitsrat. Die Wähler präsentierten am 18. September 2005 die Rechnung. Heute löst eine Verjüngung ohne veränderten Politikstil weder die Probleme der SPD noch die der anderen Parteien. Die Eigengewächse aus dem Treibhaus der politischen Klasse sind schon früh auf den eigenen kleinen Vorteil sozialisiert und meistens abgeschliffen wie Kieselsteine im Bachbett.
Die Perspektiven sind düster. Nach einer Rechnung des Managerkreises der Friedrich-Ebert-Stiftung steigen die Schulden des Bundes bis 2050 bei einem Rückgang der Bevölkerung um etwa 22 Millionen Menschen auf 292 Milliarden Euro. Eine Steigerung von 457 Prozent. Aber schon heute lagern auf den privaten Konten 4.000 Milliarden Euro privates Geldvermögen ohne Immobilien. Gleichzeitig schwätzen auch Sozialdemokraten von "Wohltaten", als sei der Sozialstaat nicht von allen, die Mehrwert erarbeiten, über Steuern und Sozialabgaben geschaffen worden. Vor knapp hundert Jahren schrieb der AEG-Erbe Walther Rathenau, die Wirtschaft sei "keine Sache von Privaten". Aus dem kollektiven und historischen Charakter der gesellschaftlichen Arbeit in ihrer "unsichtbaren Verkettung" leitete er die Forderung ab, die "verdienstlosen Massenerben" zu enteignen. Ein Prozent von 4.000 Milliarden wären 40 Milliarden im Jahr. Eine sanfte Umverteilung, gemessen an den radikalen Auffassungen von Rathenau. Durfte man solche Gedanken in der Parteitagssprache von Kurt Beck erwarten?
Der Autor saß für die SPD zwischen 1981 und 1983 sowie zwischen 1990 und 1998 im Deutschen Bundestag.
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