Eine feste Stelle

Maik Lindströms Ich-AG 55 bis 60 Stunden in der Woche wartet er auf seine Kunden

Leicht nach vorn gebeugt schaut der hochgewachsene Mann über die an ihm vorbei strömenden Menschen hinweg. Er mag unter den vielen unbewegten Gesichtern nach dem einen oder anderen suchen, das seinen Blick erwidert. Vergeblich: die meisten sehen an ihm vorbei. Gelegentlich gibt es doch jemanden, den er schon kennt, dann nickt er heftig und verzieht sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, fast schon zu einer Grimasse, das entzündete Knie schmerzt höllisch. Immer wieder verlagert er sein Gewicht auf das gesunde Bein.

Maik Lindström ist einer der vielen Straßenzeitungsverkäufer in Berlin. Seit sechs Jahren bietet er die Motz an mit dem Werbeslogan: "Authentisch, ungeschminkt, parteiisch". Erst zog er durch die S-Bahn, inzwischen hat er Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße eine feste Stelle und steht dort, ein wenig geschützt durch die Arkaden am Haus der Schweiz, in schwüler Hitze, bei Frost oder - wie in diesem Winter - einem durch alle Poren dringendem Regen. Von morgens bis abends, 55 bis 60 Stunden in der Woche, wartet Lindström auf Käufer. Werden 25 Exemplare pro Tag abgesetzt, bringt das 20 Euro ohne Trinkgeld. Krank werden darf er nicht.

Nur ungern verlässt Lindström seine feste Stelle, um in einem nahen Bistro mehr von sich zu erzählen. "Nur eine halbe Stunde", bittet er sich aus.

Viele sieht er am Abgrund stehen

"Nein, nein", ein gemeinsames Essen will er nicht. "Lieber einen Kaffee und ein Baguettebrötchen." Lindström schaut in seine Tasse und erzählt: Seine Mutter, Eva Lindström, mittlerweile verstorben, war Krankenschwester. Sie kam aus Berlin und folgte seinem Vater Allan Lindström nach Schweden. Dort in der kleinen Ortschaft Axval bei Stockholm wurde Maik am 17. September 1955 geboren. Die Ehe seiner Eltern zerbrach.

Nach zehn Jahren Schweden kehrt Eva Lindström mit dem gerade zehnjährigen Sohn und der nach ihm geborenen kleinen Schwester zurück nach Berlin-Spandau. Maik hat Probleme mit der deutschen Sprache, mit 15 verlässt er die Hauptschule, das ist im Frühsommer 1970.

Da die Mutter als Krankenschwester im kräftezehrenden Schichtdienst arbeitet, kann sie sich nicht viel um die Kinder kümmern. Wenn sie nachts Dienst hat, schlafen die bei einer Tante. Zu groß die Angst, sie allein in der leeren Wohnung zu lassen. Maik treibt sich mit Freunden auf dem Kiez herum oder jobbt im nahen Supermarkt. Vom verdienten Geld lädt gern ins Kino ein. James Dean ist sein großes Idol.

"Welche Arbeit ich gelernt habe? Gleich nach der Schule ging es los als Gebäudereiniger. Am Anfang lief alles gut. Aber eines gar nicht so schönen Tages ermahnte mich mein Chef, doch gefälligst langsamer zu arbeiten - die Aufträge bei den Behörden gingen schließlich auf Stundenlohn.

Das Ende vom Lied: Nachdem die Firma dem Mitarbeiter Lindström bereits drei Monate den Lohn schuldet, geht sie in Konkurs. Nun arbeitslos, gerät er ruckzuck in Rückstand mit der Miete, bald liegt die Kündigung des Vermieters im Briefkasten, Lindström muss zum ersten Mal auf die Straße. In Notunterkünften fängt die Sauferei an, Trost suchen im Alkohol und mit den zu Schicksalsgenossen hochgejubelten Absteigern feiern.

Lindström starrt ins Leere, als ob die fünf langen Jahre damals, die Zeit "ohne festen Wohnsitz", wie es in der Sprache der Bürokraten heißt, noch einmal an ihm vorbei läuft. Fünf Jahre ohne Arbeit, ohne Wohnung, ohne eigenes Konto. "Man" - inzwischen sogar der Deutsche Bundestag - weiß, wie wichtig allein ein Konto ist, und dass es nahezu unmöglich sein kann, ohne Bankverbindung einen Mietvertrag zu erhalten, geschweige denn einen regulären Arbeitsplatz.

Fünf Jahren lebt Lindström in Massenquartieren mit kranken, verzweifelten, aggressiven, stinkenden, besoffenen, sterbenden Menschen zusammen. Viele sieht er dem Abgrund entgegen taumeln. Einige gehen zum "Schaufenstershopping" und betreiben ihr kostenloses Illusionstheater. Die Kranken schaffen nicht einmal mehr das. Sie sterben leise, in der Unterkunft, irgendwo im Hinterhof oder auf der Straße. Zuletzt fehlt ihnen die Kraft, zu einem der wenigen Ärzte zu gehen, die in Berlin Obdachlose auch ohne Krankenkasse behandeln. In U- und S-Bahnen oder auf der Straße Zeitungen zu verkaufen, reicht vorn und hinten nicht. Es quält Lindström, dass er immer wieder hört "Geh doch arbeiten" oder "Von Drogensüchtigen kaufe ich nichts!" Einmal flüstert eine Frau ihrem Mann ins Ohr: "Man sollte sie alle vergasen."

Über die Menge hinweg

Aber er lässt nichts auf seine Kunden kommen. "Die meisten sind freundlich." Sogar die Beamten vom Bundesgrenzschutz, die ihn bei einer Razzia gegen Motz-Verkäufer aus einem S-Bahnzug holten, hätten ihm augenzwinkernd zu verstehen gegeben, er könne wieder einsteigen, sobald sie weg seien.

Mittlerweile ist es in Berlin wieder erlaubt, mit der Motz durch die Waggons zu laufen. Nach einer heftigen Debatte über "Zeitungshandel in der BVG" wurde hochtrabend erklärt, die Verkäufer von Straßenblättern "gehören zur gewachsenen Kultur der Stadt".

Lindström ist irgendwann allein mit seinem Alkoholproblem fertiggeworden. Er findet Ende der neunziger Jahre wieder eine Stelle als Gebäudereiniger in Berlin-Tempelhof, sucht sich eine Einzimmerwohnung, "ein Arbeiterschließfach", wie er sagt. Das kleine Glück hält nicht lange, der Reinigungsbetrieb segelt wegen der erdrückenden Konkurrenz aus Osteuropa in die Pleite. Lindström beantragt zum ersten Mal Sozialhilfe und bekommt sie auch ein Jahr lang ausgezahlt - danach ist Schluss.

Seither steht er wie einer der langen Kerls von Friedrich Wilhelm I. auf seiner festen Stelle Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße und kriegt oft mit, was die Republik bewegt und ihre Bürger denken. Zu seinen prominenten Kunden zählt er Alfred Biolek, Friedrich Merz und Vizekanzler Müntefering: "Der ist ganz nett, der hat mich sogar seiner Frau vorgestellt". Lindström rutscht jetzt unruhig auf seinem Stuhl herum. Die letzte Frage: Was würde er sich wünschen? - "Gesundheit", antwortet er und reibt sein Knie. "Eine Krankenversicherung kann ich mir nicht leisten, aber vier Ärzte und zwei Zahnärzte helfen uns kostenlos - einfach so. Ich komme schon zurecht", sagt Lindström beim Weggehen und nimmt seinen Platz ein. Wieder ganz Ich-AG mit dem Blick über die namenlose Menge hinweg.


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