Herbststürme sind kaum zu erwarten

SPD-Parteitag Kurt Beck will die Früchte seines Ausfallschritts nach links ernten

Vom 26. bis 28. Oktober findet in Hamburg der SPD-Parteitag statt, um unter anderem ein neues Grundsatzprogramm zu beschließen. Eine Entscheidung ist bereits im Vorfeld gefallen, Arbeitsminister Müntefering unterliegt Parteichef Beck im parteiinternen Streit um den Umgang mit der Agenda 2010.

Wenn der SPD-Vorsitzende im Parteipräsidium hinter verschlossener Tür richtig böse wird, dann wackeln seine Bäckchen und verfärben sich leicht rot. Doch die Unternehmerverbände dürfen unbesorgt sein, das muss keinesfalls als Signal für einen Richtungsschwenk der SPD nach links verstanden werden. Vielmehr schien es vor dem Hamburger Parteitag geraten, durch den Konflikt mit Arbeitsminister Müntefering über das Arbeitslosengeld I ein Ventil für den Unmut einer demoralisierten Basis zu öffnen. Auch war es an der Zeit, all jenen ein Zeichen zu geben, die nach dem glücklosen ersten Jahr ihres Parteichefs immer noch hofften, Kurt Beck möge auf der nach unten offenen Schwäche-Stärke-Skala der politischen Kaffeesatzleser wieder etwas mehr Statur und Kante zeigen.

Die Inszenierung hinterlässt Wirkung. Wenn nicht alles trügt, wird der achte Vorsitzende der SPD seit 1990 den Hamburger Parteitag ohne schmerzhafte Blessuren überstehen. Er weiß in den Arbeitgeberverbänden und ihren Claqueuren in der Presse derzeit die besten Verbündeten. Sie werfen nun auch ihm Realitätsferne und Populismus vor; er betreibe eine abartige Politik von Liebedienerei, die ein soziales "Füllhorn" (Handelsblatt) über das Volk ausschütte. Zwar steht über dem Reichstag "Dem deutschen Volke", aber das Proletariat von einst ist bekanntlich verschwunden. Übrig geblieben sind die Geringverdiener und jene 90 Prozent der Arbeitnehmer, die sich laut ARD-Deutschlandtrend des Eindrucks nicht erwehren können, der Aufschwung meide sie total. Auf die will Kurt Beck zugehen.

Flucht aus der alten Heimat

Spricht man in den Ortsvereinen mit älteren SPD-Genossen, die einst ihre Partei bei einem Stimmanteil von 45 Prozent triumphieren sahen und erfolgreich Franz Josef Strauß´ Parole "Freiheit statt Sozialismus" widerstanden, hagelt es geballte Kritik. Die Partei habe vor der Bundestagswahl 2005 keine Anhebung der Mehrwertsteuer gewollt, aber bei der Koalitionsanbahnung mit der CDU den drei Prozent ohne Not zugestimmt, statt einen Kompromiss von höchstens einem Prozent plus auszuhandeln. Die Serie von Wahlniederlagen in den vergangenen Jahren - vom Saarland, über Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg bis zum Einbruch in vielen Großstädten - haben viele Ortsvereine nie verkraftet. Seit Willy Brandt das 1.000.000. Mitglied ehrte, hat die SPD 455.776 Genossinnen und Genossen verloren. Besonders dramatisch geriet die Flucht aus der alten politischen Heimat während der Amtszeit des Kanzlers Schröder, als zwischen 1998 und 2005 187.421 Genossen ihr Parteibuch zurückgaben und der Anteil junger Mitglieder (bis zu 25 Jahren) auf einen Wert von unter zehn Prozent absackte. Viele der Parteiflüchtlinge bilden heute im Westen den aktiven Kern der Linkspartei.

Folglich fällt in den Stadträten die Einsicht schwer, aus Parteiräson mit den Ex-Genossen vor Ort nicht kooperieren oder gar koalieren zu dürfen. Dabei kämpfen geübte und anerkannte SPD-Kommunalpolitiker mehr denn je um ihre Klientel - man geht gemeinsam zum Italiener, schimpft über die Zwei-Klassen-Medizin, Praxisgebühren und Rentenverluste, wettert gegen die Heuschrecken und klagt über die auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich. Doch sollte man sich nichts vormachen: Auch dieses lokal gefärbte Milieu besonders an Rhein und Ruhr hat längst keine Beziehung mehr zu den Ärmsten der Gesellschaft. Die überlässt man den Kirchen oder der Linkspartei.

Entsprechend aggressiv ist das Verdächtigungsvokabular bei den Spitzenfunktionären gegenüber Oskar Lafontaine, der im rhetorischen Handstreich eines "gnadenlosen Populismus" für schuldig befunden wird. Dass sich auch Partei-Ikone Willy Brandt seit 1932 für zwölf Jahre der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) anschloss und von der damaligen SPD abwandte, bleibt ausgeblendet.

Oft ja auch visionär

In gewohnter Selbstbespiegelung werden die Delegierten in Hamburg, rekrutiert zu einem erheblichen Teil aus Berufsfunktionären und Mandatsträgern in den Ländern, wenig Neigung verspüren, selbst verschuldete Ursachen der Partei-Misere zu verhandeln. Wie schon beim "Münte-Mythos" oder "Platzeck-Aufbruch" ist wieder mit einem "Neuanfang" oder "neuem Antritt" zu rechnen, angereichert durch ein neues Parteiprogramm.

Die Delegierten werden einem strahlenden Kurt Beck nach einer fulminanten Rede stehend und minutenlang für die Fernsehkameras applaudieren, während in der Lobby Berliner Hofschranzen und Abgeordnete, die nicht als Delegierte präsent sein können, bei Würstchen und einem wenig magenfreundlichen Kaffee Hintergrundgespräche führen. Man wird den um Führungsstärke bemühten Parteichef als "geduldigen, leutseligen, bodenständigen, oft ja auch visionären Vollblutpolitiker" loben, der es jederzeit mit Frau Merkel aufnehmen könne. Bringt Hamburg eine Vorentscheidung für die Kanzlerkandidatur?

Der Tagesordnungspunkt "Wahl des Parteivorsitzenden" wird vorgezogen, damit sich die Deutungsmacht der Berichterstatter über der Tatsache entfalten kann, dass der Parteivorsitzende 0,3 Prozent mehr (oder weniger) als im Vorjahr erhalten hat. Danach dürfen sich die Delegierten - streng nach den Vorgaben der allabendlichen Bezirksbesprechung - zur Bahnprivatisierung, zu Erbschaftssteuer und Mindestlohn, zu Afghanistan-Einsatz und Wehrpflicht ein wenig austoben. Herbststürme freilich sind nicht zu erwarten. Einige Beschlüsse, die vom Parteivorstand als Leitanträge formuliert wurden, erreichen unter Umständen die Gesetzesmaschinerie des Bundestags. Ein größerer Teil der Anträge (nicht zuletzt die von der Basis) darf auf Wiedervorlage hoffen, landet im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung oder verendet im Reißwolf. Die SPD wird auch auf diesem Parteitag nicht die Kühnheit riskieren, wieder Maßstäbe für ihr politisches Dasein zu vereinbaren, bei denen Brandts Maxime, mehr Demokratie wagen, oberstes Prinzip sein könnte.

Es käme aber darauf an, unumwunden auszusprechen, was ist. Export-Weltmeister Deutschland gehört zu den Globalisierungsgewinnern und trotzdem lässt der Staat ganze Milieus geistig und sozial verwahrlosen. Der Wissensvorsprung des Wirtschaftsstandorts Deutschland schmilzt gegenüber den sich als Industrienationen etablierenden Schwellenländern. Für ein Land ohne Rohstoffe ist es überlebensnotwendig, in die Intelligenz der Kinder zu investieren, doch pflegt das Bildungssystem weiter seine strukturkonservative Selbsterhaltungskraft. Eine weltweite Konfrontation um Rohstoffe und Energien hat begonnen, jeder unvoreingenommene Analyst weiß: Der Terrorismus ist eine der Konsequenzen des damit einher gehenden Postkolonialismus, und schlussfolgert: Die Welt befindet sich im Transit zu einer globalen Schicksalsgemeinschaft, mit Militärinterventionen und Raketen lässt sich dem nicht gerecht werden.

Anstatt das Feindbild Lafontaine zu bemühen, könnte Kurt Beck zu diesen Herausforderungen jenseits aller nicht unbedingt rostfreien Stereotype Klartext reden und einen Jubel-Parteitag mit Geschlossenheitsritualen als das begreifen, was er ist: eine geläufige virtuelle Realität, um Medienwirklichkeiten abzuliefern und die Bevölkerung weiter von der einst so verdienstvollen SPD zu entfremden. Nur die Sozialdemokraten selbst können das ändern.

Der Autor war in den achtziger und neunziger Jahren für mehrere Legislaturperioden SPD-Bundestagsabgeordneter.


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