Am Montag danach geht das Leben im 10. Pariser Arrondissement scheinbar so weiter wie immer. Die Kaffeehäuser und Bistros sind wieder geöffnet, die Müllabfuhr fährt durch die engen Straßen und sammelt ein, was die Wohlstandsgesellschaft wegwirft. Vor den Bankfilialen mit den Geldautomaten sitzen die jungen Frauen aus Rumänien und Bulgarien, alte Bekannte, die dort seit Jahren Passanten um ein paar Münzen bitten. An den Abfallcontainern der Supermärkte rund um das prächtige Rathaus des Bezirks warten dieselben alten Menschen, bei denen die Rente nicht zum Leben reicht, um sich über verwelkte Salatköpfe und unverkäufliches Obst zu streiten.
Das 10. Arrondissement ist eines der populären Stadtviertel, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, als der Präfekt und Baron Georges-Eugène Haussmann das alte Paris abreißen und ärmliche Gassen durch prächtige Boulevards ersetzen ließ. Arbeiter und Handwerker wurden an den Rand der Metropole gedrängt. Die Bourgeoisie war nun unter sich, die weiten Passagen zwischen den auf fünf bis sechs Stockwerke beschränkten Bürgerhäusern im neoklassizistischen Stil – in Frankreich „Stil Haussmann“ genannt – erlaubten es dem Militär, auch Kanonen aufzufahren, wenn es galt, Revolutionäre wie die Pariser Kommunarden zusammenzuschießen.
Von der Place de la Bastille im Süden bis hinauf zum Gare de l’Est im Norden ist „das Zehnte“ bis heute ein Quartier geblieben, in dem alteingesessene Pariser leben und Marine Le Pens Front National bis in die jüngere Vergangenheit bei Wahlen meist gar nicht erst antrat. Dort ist die linksliberale, von Jean-Paul Sartre gegründete Tageszeitung Libération ebenso zu Hause wie das angesehene Internetportal Mediapart des ehemaligen Le-Monde-Chefredakteurs Edwy Plenel. Dort wohnen neben Zeitungs- und Fernsehjournalisten meist Freischaffende – Architekten, Künstler, Ärzte, Musiker und Schriftsteller. Am Übergang zum 11. Arrondissement und zum alten jüdischen Viertel Marais steht das Gebäude des Konzertsaals Bataclan, in dem am vergangenen Freitag 89 junge Menschen im Gewehrfeuer junger Apologeten des islamistischen Terrors starben. Richtung Norden, zwischen der Place de la République und dem Gare de l’Est, stößt man auf die beiden Bistros, in denen während der Schreckensnacht ebenfalls Gäste unter den Feuerstößen der Attentäter zusammenbrachen.
„Das Zehnte“ sei deshalb zum Ziel geworden, glauben viele, die dort zum Teil seit Generationen leben, weil es in den vergangenen Jahren zum beliebten Treffpunkt der Pariser Jugend geworden sei. Tatsächlich verschlägt es in die hiesigen Bars nicht allzu viele Touristen, man bleibt unter sich, die Preise sind – für Pariser Verhältnisse – verkraftbar. Der Bezirk ist sozusagen ein normales Wohngebiet mitten in der Hauptstadt.
Hände vors Gesicht
Aus diesem Traum vom ruhigen und fröhlichen Leben in den Straßen einer der meistbesuchten Städte der Welt so aufzuwachen wie nach dem 13. November, muss für Einwohner, die Gewalt und Krieg nur aus dem Fernsehen kennen, schrecklich gewesen sein. Libération kommt zu Wochenbeginn mit einer an sie gerichteten Schlagzeile heraus: Generation Bataclan. Die jungen Menschen hätten nur deshalb sterben müssen, weil sie eben „jung, feierlustig, offen und kosmopolitisch“ gewesen seien. Gezeigt werden die Opfer, mit Foto und Kurzbiografie, keines älter als 40.
Im Bistro Le Réveil du Dixième (Der Wecker des Zehnten) direkt hinter dem Rathaus sitzen die Stammgäste beim Morgenkaffee. Fast jeder von ihnen kennt jemanden, der am Freitag im Bataclan dabei war – der überlebt hat oder eines grausamen Todes gestorben ist. Auch die Tochter des Autors dieser Zeilen hatte dort einen Freund, der getötet wurde, während sie mit ihrem Vater nach Deutschland unterwegs war, zum Haus ihrer Großmutter.
Den älteren Herren und den jungen Kellnern im Reveil kommen immer noch die Tränen, wenn sie sich die schrecklichen Bilder und Beobachtungen schildern, die sie selbst erlebt haben. Die Restaurants Petit Cambodge und Le Carrilonsind nur einen Steinwurf entfernt.
Der Wirt David hat sich von einer Webseite im Internet eine Kopie gemacht, die er im Lokal herumzeigt. Er hat am Sonntag, als in Paris alle Lokale und der Viktualienmarkt gegenüber dem Reveil geschlossen blieben, auf Wikipedia nach dem Stichwort „mission accomplished“ gesucht. Er war aufgewühlt, verzweifelt. Was er fand, hat er ausgedruckt. „Der Anfang vom Ende“ sei das gewesen, sagt David, 45 Jahre alter Vater dreier Kinder, und zieht den Zettel hervor: „Am 1. Mai 2003 war George Bush der erste US-Präsident, der mit einer besonderen Technik eine sichere Landung auf dem Flugzeugträger ‚USS Abraham Lincoln‘ hinlegte. Das Schiff lag direkt vor der Küste von San Diego, wohin es nach Kampfeinsätzen im Persischen Golf zurückgekehrt war. Hoch über ihm wehte ein Banner, auf dem stand ‚Mission Accomplished‘.“ Im Wall Street Journal schrieb damals die Journalistin Lisa Schiffren – auch das hat David aus dem gleichen Eintrag kopiert –, Bush sei „echt heiß“ aufgetreten.
Michael, der Dichter aus der angrenzenden Rue du Château-d’Eau, lächelt müde, als er David den Fetzen Papier zurückgibt. Worüber die morgendliche Männerrunde vor einigen Tagen noch viel geredet hätte, verliert heute niemand auch nur ein Wort. David wirft das Ergebnis seiner Recherche in den Mülleimer. Jean, der Wissenschaftler, Professor für russische Sprache und Kultur, auch er ein Stammgast im Reveil, hat Fotos an seine Freunde und Bekannten geschickt, die er am Wochenende vor dem Carrilonund dem Petit Cambodgegemacht hat. Berge von Blumen natürlich, weinende Passanten, Jugendliche, die die Hände vors Gesicht schlagen. Und Jean, ein Enkel der großen deutschen Schriftstellerin Anna Seghers, die Mitte der 30er Jahre im Pariser Exil lebte, hat seine Fotos mit einem Text per Mail an Freunde versandt. Unter die Bilder schrieb er: „Das Verstreuen von Steinen kommt dem Verstreuen von Ideen gleich. Werft Paris in die vier Winde und verstreut so die Saat der Zukunft. Sie wird Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hervorbringen. Paris ist die Stadt – Paris ist die Seele ...“
Gino am Bataclan
Weiter nach Norden Richtung Stade de France, wo mehrere Bomben explodierten, während drinnen die Spieler der deutschen und französischen Fußballnationalmannschaft seltsam gehemmt ihr Match über die Runden brachten, liegt der Pariser Vorort Saint-Denis. Eigentlich eine selbstständige Stadt, keine Banlieue. In der mächtigen Kathedrale ruhen Frankreichs Könige, unter Marmor begraben, dem Heiligen treu, dem Patron der ganzen Ile-de-France, der – von Heiden im Jahr 250 geköpft – sein Haupt aufhob und so lange weitermarschierte, bis er den Ort erreichte, wo heute seine Kirche steht.
Quasi im Schatten der hohen Stützmauern dieses Sakralbaus wohnt Gino, ein Mann von 68 Jahren, mit seiner Frau Maria. Sein Leben hat er hier verbracht, als Schneider und als Spezialist für Herrenbekleidung, mit der er die besseren Konfektionsläden der Innenstadt belieferte. Er kennt sie alle in seinem Viertel, die Anständigen ebenso wie die kleinen voyous, die sympathischen Strolche, die „Fahrraddiebe“, wie sie der römische Regisseur Vittorio De Sica in seinem neorealistischen Film einst nannte.
Gino ist Italiener aus Kalabrien, nach Frankreich kam er in den 60er Jahren; seine Frau stammt aus dem Maghreb, eine hochgewachsene Kabylin mit wunderbaren, schwarzen Augen. Die beiden sind ein für die Pariser Banlieue typisches Paar. Dass die muslimischen Jungs, die in ihrer Nachbarschaft groß geworden sind, jetzt wieder einmal am Pranger stehen werden, ist für sie sicher, und es macht sie traurig. Am Sonntag nach dem Attentat hätten sie drei von ihnen ins Auto geladen, erzählt Gino, und seien zum Bataclan ins 10. Arrondissement gefahren. Auch die jungen Männer, die schwarzen Baseballmützen mit den glänzenden Metallnieten auf dem Kopf, hätten vor den Blumenbergen und den immer noch sichtbaren Spuren der blutigen Nacht nicht anders gekonnt – sie hätten geweint.
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Lesen sie mehr zum Thema in Ausgabe 47/15 des Freitag
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