Wieder das Establishment?

Griechenland Die Wähler müssen sich zwischen elitärem Klientelstaat und moralischem Aufbruch entscheiden. Es ist eine Systemfrage
Ausgabe 38/2015
Tsipras steht 2015 schon zum dritten Mal zur Wahl
Tsipras steht 2015 schon zum dritten Mal zur Wahl

Foto: Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images

Themistoklis Delvidopoulos ist Rentner und hat ein typisch griechisches Berufsleben hinter sich – als Obstpflücker, Lebensmittelhändler, Bauzeichner und Ingenieur. Es gibt nicht viel, was er nicht getan hätte. Als er geboren wurde, tobte der Bürgerkrieg (1945–1949), seine Eltern waren überzeugte Kommunisten und am Ende die Verlierer. Der Vater schuftete danach auf Orangenplantagen am Rande der nordwestkretischen Provinzstadt Chania, die Mutter putzte bei Reichen. Als die beiden heirateten, warfen rechte Schläger Steine durch die Fensterscheiben, hinter denen sich die kleine Festgesellschaft zum Essen versammelt hatte.

Themis, wie seine Freunde ihn nennen, ist noch immer Kommunist, gehört inzwischen jedoch keiner Partei mehr an. Im Januar entschied er sich für Syriza wie viele frühere Kameraden, nur blieb der neue Ministerpräsident vieles von dem schuldig, was er versprochen hatte. Themis will Alexis Tsipras am 20. September trotzdem wiederwählen – warum?

Am Erbhof

Die Antwort des 70-Jährigen ist einfach und für einen Griechen ungewöhnlich: „Weil er ehrlich ist.“ Eilikrineia (Ehrlichkeit) zählte bisher nicht zum Repertoire griechischer Spitzenpolitiker. Bis Syriza und Tsipras kamen, war Ehrlichkeit auch für die Wähler kein Kriterium für das Kreuz auf dem Stimmzettel. Kandidaten, die das Wort während eines Wahlkampfs in den Mund nahmen, galten als Lachnummer. Erst als Syriza den Altparteien den Rang ablief, wurde die Vokabel gebraucht, um den Erfolg des linken Lagers zu erklären. Vor dem Votum am 20. September ist es deshalb die alles entscheidende Frage: Will die Mehrheit nach acht Monaten eines – zumindest moralischen – Aufbruchs wieder zurück in den Klientelstaat, zurück zu Nepotismus und Herrschaft der alten Eliten?

Die rechtskonservative Nea Dimokratia (ND) stellte Anfang der 90er Jahre einen Regierungschef, dessen Kabinett für Zustände exemplarisch war, die demnächst wieder aufleben könnten. Konstantinos Mitsotakis, heute 96 Jahre alt, gilt noch immer als Strippenzieher in der ND. Ein Patriarch im Hintergrund, der seine Leute zu platzieren weiß. In den chaotischen Jahren von April 1990 bis Oktober 1993, als über Monate hinweg keine der großen Parteien eine Regierungsmehrheit zustande brachte, schaffte es Mitsotakis schließlich, eine Allparteienkoalition zu bilden, in der nur die Parteigänger seines Intimfeindes Andreas Papandreou fehlten, die panhellenischen Sozialisten der Pasok.

Neben Mitsotakis, der 1966/67 mit dem politisch unerfahrenen jungen König Konstantin einer Militärdiktatur den Weg zur Macht geebnet hatte, saßen nach 1993 Leute am Kabinettstisch, die sich als Prokuristen der Oligarchie verstanden, darunter der im Januar abgelöste ND-Premier Antonis Samaras als Außenminister, Athens Ex-Bürgermeisterin Theodora „Dora“ Bakoyannis, die Tochter von Mitsotakis, und ein Staatssekretär namens Evangelos Meimarakis.

Eben der, inzwischen 61 Jahre alt, ist nun Spitzenkandidat und Galionsfigur der Nea Dimokratia. Nach seiner Zeit in der Regierung Mitsotakis war er ND-Generalsekretär, Abgeordneter, Sport- wie Verteidigungsminister und – bis Syriza kam – Parlamentspräsident. Zweifellos zählt Meimarakis zu den Politikern, die das Land in eine seit 2010 nicht mehr aufhaltbare soziale Katastrophe gestürzt haben. Der ND-Frontmann ist einer von denen, die – wie es der Komponist Mikis Theodorakis ausdrückt – seit Generationen für den Kitt sorgen zwischen den zehn alles beherrschenden Familien und dem Ordnungskomplex aus Politik, Polizei und Militär. Leute wie Mitsotakis oder Meimarakis, sagt der in den Gefängnissen der Junta schwer gefolterte Schriftsteller und Syriza-Abgeordnete Periklis Korovessis, seien nicht nur in der Politik reich geworden, sie hätten ihr politisch-soziales Kapital nach langen Karrieren in einer scheinbar demokratisch legitimierten Erbfolge an ihre Kinder weitergereicht.

In der Nea Dimokratia wie der Pasok folgten auf die Väter Mitsotakis, Karamanlis und Papandreou die Söhne, eine Tochter und ein Neffe. Die derzeitige Pasok-Spitzenkandidatin Fotini „Fofi“ Gennimata hat ihren Vater Georgios Gennimata beerbt, der in den 80er Jahren dem Premierminister Andreas Papandreou als Wirtschafts-, Arbeits-, Gesundheits- und Innenminister diente. Sie übernahm den Parteivorsitz von Evangelos Venizelos, der in zwei Jahrzehnten als Abgeordneter, Minister und Organisator der Olympischen Spiele 2004 vom mager bezahlten Rechtsprofessor zum steinreichen Immobilienmogul mutierte.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt im Wahlkampf die griechisch-orthodoxe Kirche. Als Verfassungsorgan ist sie Regierung und Parlament nahezu gleichgestellt. Sie bleibt daher von Steuereintreibern verschont und hat bis in die Zeit der Syriza-Regierung nur wenig an weltlicher Macht eingebüßt. Ex-Premier Konstantinos Mitsotakis wird nachgesagt, in seinem langen Politikerleben mehr als 1.000 Neugeborenen ein Taufpate gewesen zu sein, in der Regel dann, wenn Wahlen zu bestehen waren. Ein in Griechenland durchaus übliches Mittel der indirekten Korruption: Das Patenkind wird beschenkt und die Familie verpflichtet – eine Art Stimmenkauf, an dem sich die Kirche mit orthodoxem Gepränge stets gerne beteiligt.

Auch in der Woche vor der Parlamentswahl liegen Syriza und Nea Dimokratia in den Umfragen mit je 27 Prozent gleichauf. Alexis Tsipras hat im Wahlkampf für eine moderne Gesellschaft geworben, in der es mit dem Klientelsystem vorbei ist. Nicht zuletzt deshalb hat er eine große Koalition mit der ND ausgeschlossen. Aber auch Tsipras musste eingestehen, dass die Staaten der Eurozone mit dem dritten Hilfsprogramm erneut ein hartes Spardiktat durchsetzen konnten. Die Ernüchterung darüber mündet für manchen Syriza-Anhänger in Frust und Abkehr, zumal die Gläubiger statt des Schuldenschnitts bestenfalls Umschuldungen anbieten. Augenscheinlich fehlte es der Syriza-Regierung an Realitätssinn, um Illusionen über die Machtverhältnisse in der Eurozone zu entgehen. Diese traten klar zutage, als die EZB nach dem Referendum vom 5. Juli die Schließung der griechischen Banken erzwang und dem Land ein Finanzkollaps drohte. Abwenden ließ der sich erst, als Tsipras in der Gipfelnacht zum 13. Juli bereit war, erneut ein hartes Austeritätsprogamm zu schlucken

Aggressiver Nebenstaat

Für Themis Delvidopoulos ist das kein Grund, Syriza die Stimme zu verweigern. Was ihn besonders motiviert, ist der Wille, dem Druck eines reaktionären Establishments zu widerstehen. Bis heute hat sich eine nur allzu oft gewalttätige Aggressivität gegen das linke Lager erhalten. Nach dem Bürgerkrieg waren seinerzeit ultrarechte Untergrundverbände entstanden, gedeckt vom Geheimdienst EYP und den bis Mitte der 60er Jahre zumeist rechtskonservativen Regierungen, denen ein solcher parakratos (Nebenstaat) willkommen war. Nicht nur Rudimente dieser klandestinen Strukturen, so scheint es, sind weiterhin existent. Davon bedroht wurden während der Tsipras-Regierung nicht allein Finanzbeamte, die in den Kontoren von Medienunternehmern und Reedern vorsprachen, um auf geltende Steuerpflichten hinzuweisen. In Schrecken versetzt sah sich genauso der eine oder andere Minister, bevorzugt jene mit kommunistischer Vorgeschichte.

„Keiner sollte das leicht nehmen“, warnt Themis, der die Gewalt des parakratos in den Junta-Jahren am eigenen Leibe zu spüren bekam. „Dass die Rechtsextremen drohen, ist nicht neu. Das Problem sind ihre Hintermänner, die im Dunkeln bleiben. Es reicht der dezente Hinweis, dass in Athen heutzutage für nur 5.000 Euro jederzeit ein Mörder zu finden sei, der sein Handwerk versteht – das verfehlt seine Wirkung nicht.“ Die entscheidende Frage sei jedoch, ob seine Landsleute begriffen hätten, dass die alten Eliten auf dem Sprung seien, sich wieder dort zu etablieren, wo die Wähler sie Anfang des Jahres verjagt hatten.

Hansgeorg Hermann, Jahrgang 1948, war 15 Jahre Journalist in Griechenland und lebt heute in Paris. Er ist Mikis-Theodorakis-Biograf und Übersetzer griechischer Literatur

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