Katalysator und Katharsis

CHILE Mit einem Prozess gegen Pinochet könnte ein Weg in Richtung Zivilgesellschaft beginnen - gestützt auf die Eliten des Liberalismus und der "Neuen Ökonomie"

José Miguel Insulza lässt die Strafverfolgung des emeritierten Diktators nicht los. Der Jurist gehörte dem Kabinett des christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei in der Funktion des Außenministers an, als der Ex-General in London festgesetzt wurde. Damals musste der Chef des Außenamtes in europäischen Hauptstädten vorstellig werden, um namens seiner Regierung die Rückkehr Pinochets nach Chile zu verlangen. Nun bekleidet Insulza in der Regierung seines sozialistischen Parteifreundes Ricardo Lagos das Amt des Innenministers. Dem obliegt es nicht zuletzt, dafür zu sorgen, dass die nun amtliche Aufhebung der Immunität des selbsternannten Senators auf Lebenszeit nicht bloß papierene Episode bleibt, sondern der Beklagte tatsächlich vor seinen Richtern erscheint.

Für Insulza bedeutet die neue Lage, dass nun nirgendwo mehr an "der demokratischen Reife" Chiles gezweifelt werden könne. Über den spanischen Richter Baltasar Garzón, der als juristischer Einzelkämpfer den Anstoß zu diesem Prozess gegeben hatte, verliert der Minister indes noch immer kein gutes Wort, denn der Spanier habe sich "in chilenische Angelegenheiten eingemischt". Was nicht zu akzeptieren sei.

Ganz in diesem Sinne kommentierten die Vorturner der politischen Klasse nahezu überall in Lateinamerika die jüngste Entwicklung in der Causa Pinochet. Argentiniens Präsident Fernando de la Rúa - in seinem Land mit ähnlichen Problemen konfrontiert - begrüßte die durch den jüngsten Richterspruch bewiesene "Souveränität Chiles und seiner Justiz". Mexikos künftiger Staatschef Vicente Fox wiederum sah "eine Demonstration der Solidität der chilenischen Institutionen".

Zumindest südlich des Rio Grande geht es bei dieser Sache keineswegs nur darum, einen Diktator der Gerechtigkeit zuzuführen, sondern um die Bestätigung, in der internationalen Gemeinschaft als Gleicher unter Gleichen respektiert zu werden. Im Bemühen darum gelingt Chile möglicherweise ein historischer Schritt nach vorn: von der Demokratur der Oligarchen zur einer demokratischen Zivilgesellschaft, die Narrenränder - wie sie unbelehrbare Pinochetisten abgeben - gelassen ignorieren kann. In dieser Vorreiterrolle, die freilich in den positiven Phasen der chilenischen Geschichte angelegt ist, könnte das Land nicht bloß ein Muster für den Subkontinent sein, sondern weltweit für alle aus kolonialen Verhältnissen hervorgegangenen Staaten, die weithin eines gemeinsam haben: An die Stelle der Kolonialmacht gelangte beinahe überall eine einheimische Oligarchie, für die Demokratie bestenfalls formaler Zierrat ist. Dass sich an den wahren Machtverhältnissen - egal, wer regiert - wenig ändert, garantierten in Lateinamerika überwiegend die beiden Säulen, auf die sich eine de facto über den Gesetzen stehende Oligarchie stützen konnte: die Kirche und die Armee. Letzterer kam besondere Bedeutung zu in einer Region, in der große Umbrüche meist nicht mit politischen, sondern militärischen Mitteln erreicht wurden - von der Vertreibung der Kolonialmacht bis zur Ablöse überkommener oder der Machtelite unliebsamer Regierungen.

Ein Hurensohn der alten Schule

Das Staatsverständnis diese Kräfte formulierte dieser Tage ein ehemaliges Junta-Mitglied Pinochets in einem TV-Interview: "Regierungen kommen und gehen, doch die Kirche und die Armee sind ewig."

Die Richter wiederum, die nun Pinochets Immunität mit erstaunlich breiter Mehrheit aufhoben, demontierten die Position der Verteidigung, wonach der Junta-Chef allenfalls stattgehabte bedauerliche Vorfälle keineswegs angeordnet habe. Sie zitierten in der Urteilsbegründung nicht ohne Sarkasmus aus einem 1983 unter Pinochets Namen mit dem Titel "Politik, Politisiererei und Demagogie" veröffentlichtem Pamphlet, in dem es heißt: "In militärischen Strukturen lebt man als Folge der permanenten Dynamik von Befehlen und Gehorchen mit größerer Klarheit. In einer Militärorganisation taugt nichts, wer nicht befehlen kann. Wer nicht gehorchen kann, ist gleichfalls nichts wert. Daher ist im Leben die fruchtloseste Person jene, die weder befehlen noch gehorchen kann."

Wenn die eigentliche Machtelite in Chile noch immer in solchen, aus den kolonialen Strukturen hervorgegangen Schablonen verharren konnte beziehungsweise Rechtsstaat und Demokratie weithin eine Schimäre blieben, so ging das in der Hauptsache auf den Umstand zurück, dass dem Kolonialismus der Imperialismus auf den Fuß folgte. Vor allem jener der USA, die nach außen hin zwar lauthals der Demokratie das Wort redeten, doch tatsächlich im Sinne des Urteils verfuhren, das in Washington über Nikaraguas "Tacho" Somoza kolportiert wurde: "Er ist zwar ein Hurensohn - aber er ist unser Hurensohn." Auch Pinochets Putsch wäre ohne Flankenschutz der US-Regierung undenkbar gewesen. Desgleichen ist es kaum vorstellbar, dass die Regierung eines europäischen NATO-Partners den Despoten i.R. unter Arrest gestellt hätte, wäre dieser noch ein Günstling der USA gewesen.

Mit dem Ende des Kalten Krieges hat in Lateinamerika das Bündnis von Oligarchie und Militärs seine strategische Brückenkopf-Funktion in Sinne der USA verloren, die sich in ihrem Hinterhof nur noch eingeschränkt engagieren. Erst dank dieser Gemengelage konnte es zur spektakulären Verhaftung von Pinochet in London kommen - die nicht nur in Chile als brüsker Hinweis auf den semi-kolonialen Status des eigenen Staates verstanden wurde. Und das wiederum nicht nur von der alten Herrschaftselite und ihren uniformierten Büchsenspannern, sondern ebenso von aufgeklärteren Sektoren, die in der neuen globalen Lage mit den Möglichkeiten der "Neuen Ökonomie" ihr Manövrierfeld wachsen sehen.

Das andere Chile im Zeugenstand

Die Folge war in Chile eine vorwiegend taktische Allianz aller sich als staatstragend verstehenden Elemente, die - aus teils gegensätzlichen Motiven - gemeinsam den "Fall Pinochet" zur Nagelprobe in Sachen staatlicher Souveränität erklärten. Was zu der Auffassung führen musste, man sei gewillt und in der Lage, der eigenen Justiz das letzte Wort zu erteilen, obwohl bis dahin - aus divergierenden Motiven - niemand ernsthaft daran gedacht hatte, den greisen Massenmörder vor Gericht zu stellen. Doch aus diesem Konsens erwuchs eine Dynamik, die dazu geführt hat, dass sich die Rechtsstaat-Prophezeiung nahezu unaufhaltsam wie von selbst zu erfüllen begann. Begleitet dazu von der Möglichkeit, nun aus einer überlegenen Position auf die Ex-Kolonialmacht Spanien zu blicken, wo man in feige bornierter Verdrängung der Franco-Diktatur verharrt.

Natürlich bewirkt dieser Prozess in Chile noch nicht die gänzliche Ausschaltung des politischen Pinochetismus, der als eine Art Transmissionsriemen zwischen der ökonomisch eigentlich überkommenen alten Oligarchie sowie des von der rabiat neoliberalen Junta-Wirtschaftspolitik produzierten neureichen Jungunternehmertums funktionierte. Doch dieses Segment hat durch die jüngste Entwicklung die politisch-kulturelle Hegemonie verloren. Das zeigt sich vor allem in den Versuchen, diese zurück zu erlangen.

So verlangen Pinochets parlamentarischen Gefolgsleute jetzt eine Sonderdebatte des Senats, um dort "die historische Wahrheit" über die Herrschaft der Junta zurechtzurücken, also institutionalisierte Geschichtsfälschung zu versuchen.

Genau damit könnte die extreme Rechte indes wider Willen zur Aufarbeitung der verdrängten Geschichte der Diktatur beitragen. Schafft sie so doch eine Tribüne für die Zeugenschaft der bislang vor der etablierten Öffentlichkeit kaum gehörten Opfer. Dieses andere Chile kann sich zudem durch die Aufhebung der Immunität Pinochets erstmals seit der formalen Rückkehr zur Demokratie nicht bloß aus pragmatischer Einsicht in taktische Zwänge mit dem Staat identifizieren - die Voraussetzung für eine dauerhafte Ablösung der Oligarchen-Demokratur durch die von einer pluralistischen Zivilgesellschaft geprägte rechtsstaatliche Demokratie - eine Transformation, die keineswegs nur in Chile ansteht.

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