Sofaecke

TONABNEHMER Jimi Tenor:

Finnlands Fundus an seltsamen Musikanten scheint unerschöpflich. Viel ist zwar über Finnlands Musikszene nicht bekannt, doch zu denen, die es über die Landesgrenze bis in die Restwelt geschafft haben, zählen unter anderem die Leningrad Cow boys, jene schmierlappigen Rocker mit Haartollen, länger als französisches Baguette, die Band Apocalyptica, ein hartrockendes Cellisten-Quartett, das sich vor allem darauf spezialisiert hat, alte Metallica-Hits nachzugeigen, und eben jene zahllosen Schlagersänger, die Jahr für Jahr tapfer am unkorrumpierbaren Geschmack der Jurys des Grand Prix d'Eurovision scheitern. In dieser Reihung wäre Jimi Tenor Finnlands Pop-Beauftragter für Style und Glamour. Vor drei Jahren war er Mittelpunkt eines mittelgroßen Hypes. Er trägt große Brillen und Schuhe mit Absätzen und kauft seine Garderobe nicht von der Stange. Weil er auf dem britischen Elektronik- und Techno-Label Warp veröffentlicht, rechnet man ihn fälschlicherweise der Clubszene zu. Tatsächlich hat er eine Vorliebe für Saxophone, veraltete Synthesizer und Musikstile, die besser auf Sofaecken, denn auf Tanzflächen plaziert sind. Niemals steht auch nur eine Jimi Tenor-Komposition in dem Verdacht von Innovation und Fortschritt. Sein bislang einziger Hit »Take Me Baby« von 1996 klingt wie eine verlorene Hit-Single-A-Seite von Gary Glitter. Andere Stücke klingen nach Glamrock, Disco, Kuschel-Jazz und Soul. Jimi Tenor ist gewissermaßen Finnlands Antwort auf Beck in den Koordinaten von Helge Schneider, Isaac Hayes und T. Rex.

Zwischen den Alben Intervision und Organism hat Tenor den Wohnort gewechselt und ist von Helsinki nach Barcelona gezogen. Seitdem langweilt er sich nach eigenen Aussagen sehr, weil man in Barcelona ständig Siesta hält. Und keiner seiner alten Freunde ruft ihn an. Organism sei eine Reaktion darauf, erklärt er in Interviews und begegnet ansonsten Fragen zur Musik stur mit Janös, Weiß-nichts oder Hmm-vielleichts. Bei seinen jüngsten Auftritten trabte er, angetan mit einem silbernen Umhang, auf einem weißen Pferd auf die Bühne, schwang sich herunter und plazierte sich lässig linkisch vor seinen Tasteninstrumenten. Jimi Tenor scheint ausgesucht komisch. Man sollte jedoch nicht den Fehler machen und ihn für einen Witzbold halten.

Denn trotz schillernd überdrehter Extravaganz klingt die Tenor-Musik tief im Innern sentimental und unbedingt traurig. »My mind is an open book for you, honey, you can read me as you wish«, schmachtet er in »My Mind« mit brüchig-heller Stimme, begleitet von einem sechzig Mann starken Chor, umrahmt von Fingerschnippen, Standbaß, Gitarre und Pfeifen. Das Schlagzeug wird mit dem Besen gespielt, ein Saxophon bläst ihm den wasserstoffblonden Pony aus der Stirn. In dem Stück steckt die Melancholie von dreißig Jahren Popgeschichte, und Tenor legt sich in sie hinein wie in ein lauwarmes Wannenbad. Organism ist eine Ansammlung von Zitaten, sicher gewählt, fein ausbalanciert und geschickt miteinander verwoben. Die Stücke sind seltsam klassisch, späte Blüten einer Zeit, die längst vergangen ist, und die es in dieser Form wahrscheinlich niemals gab. Die Vorstellung davon ist sehr diffus, die Sehnsucht danach aber konkret: »It was a hot August night, baby!« Sämtliche musikalischen Referenzen, die hier bemüht werden, sind derart eingebaut, daß sie auf nichts anderes verweisen, als auf Tenor selbst. Beinah alle Instrumente hat er eigenhändig eingespielt. Hier kocht der Künstler noch selbst. Er steht in der Mitte seines Universums und trägt seine Hornbrille wie eine schimmernde Krone. Das Cover erinnert entfernt an das Filmplakat von »Die Insel des Dr. Moreau«. So gesehen ist Jimi Tenor hier der Alleinherrscher über schiffbrüchig gegangene Pop-Entwürfe, an denen er solange herumlaboriert, bis etwas Eigenes daraus entsteht. Die Arbeit daran ist einsam und aufreibend. Man könnte das Ergebnis retro nennen, tatsächlich ist es aber schein-retro.

Jimi Tenor: Organism (Warp/Rough Trade)

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