Viel Lust auf falsche Fragen

ARBEITSMARKT Die Legende vom Qualifizierungs-Muffel Ost

    Seit Wolfgang Thierses Thesen über die Lage der neuen Länder reißen die Versuche nicht ab, der düsteren Prophezeiung die Spitze zu nehmen und Ursachen zu finden, für die auf jeden Fall nicht die Politik verantwortlich zu machen ist. Bei Bekanntgabe der jüngsten Arbeitsmarktdaten war wieder zu beobachten, wie im Osten die Schuld vor allem bei Beschäftigten und Erwerbslosen selbst gesucht wird: Die einen verdienen angeblich zu viel - die anderen können offenbar zu wenig.

Auch wenn es in den Medien gern anders dargestellt wird, bestehende Knappheiten auf dem Arbeitsmarkt sind im Westen wie im Osten marginale Erscheinungen und stehen in keinem ernst zu nehmenden Verhältnis zum Arbeitsplatzdefizit, das sich immer noch auf rund sechs Millionen beläuft. Obwohl nach einer Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) 39 Prozent der West- und 42 Prozent der Ostunternehmen äußere Gründe dafür verantwortlich machen, dass sie ihre Marktchancen nicht voll ausschöpfen können, spielt auch bei denen ein Mangel an geeigneten Arbeitskräften nicht die entscheidende Rolle. Im Westen fühlen sich elf und im Osten sogar nur vier Prozent der Firmen in ihrer Entwicklung durch fehlende Arbeitskräfte behindert. Dagegen machen in den neuen Ländern 24 Prozent der Betriebe für ihre geringen Marktchancen den Auftragsmangel und 13 Prozent Finanzierungsprobleme verantwortlich.

Könnten andererseits die vier Prozent der ostdeutschen Unternehmen, die über das Fehlen geeigneter Arbeitskräften klagen, ihre Wünsche auf dem Arbeitsmarkt befriedigen, gäbe es nach IAB-Angaben in den neuen Ländern nur 0,9 Prozent mehr Erwerbstätige. Oder anders ausgedrückt: Das Defizit von 2,1 Millionen Arbeitsplätzen würde sich um nur 55.000 oder 2,5 Prozent verringern, wenn die Arbeitgeber jeweils die Qualifikation fänden, die sie suchen. Dass ungenügende Qualifizierung kein Grund für die stagnierende Beschäftigung in den neuen Ländern ist, zeigt auch ein Blick auf die gespaltene Ost-West-Entwicklung des Arbeitsmarktes. Denn während die wirtschaftliche Belebung das Angebot an Arbeitsplätzen in den alten Bundesländern 1999 um 100.000 steigen ließ, nahm es im Osten gleichzeitig um 20.000 ab. Aber damit noch nicht genug. Westdeutsche Facharbeiter konnten von der positiven Entwicklung profitieren und wurden überdurchschnittlich in neue Jobs vermittelt - im Osten war das Gegenteil der Fall. Hier stieg die Arbeitslosigkeit der Qualifizierten schneller als die der gering Qualifizierten. Nach einem ostdeutschen Qualifizierungsdefizit sieht das alles nicht aus, sondern eher nach einem Mangel an qualifizierten Arbeitsplätzen. Wobei es natürlich auch im Osten Erscheinungen gibt, die denen im Westen durchaus gleichen, wie etwa wachsende Langzeitarbeitslosigkeit und rückläufige Ausbildungsbereitschaft in den technologisch wichtigen Bereichen.


Aber es gibt auch Grund zu der Annahme, dass es bald schon deshalb keine Investoren mehr in die neuen Länder ziehen wird, weil es die qualifizierteren und vor allem jüngeren Fachkräfte derweil in den Westen gezogen hat. Seit 1997 sind 122.000 Erwerbspersonen auf den westdeutsche Arbeitsmarkt ausgewichen - Tendenz steigend. Noch 1996 waren 26.000 Erwerbstätige mehr in die neuen Länder gependelt als umgekehrt. Seit 1997 hat sich die Tendenz umgekehrt, allein im Jahr 2000 nahm die Zahl der Ost-West-Pendler um 47.000 zu. Dabei verraten die Statistiken, die Ost-West-Mobilität ist um so größer, je höher die Qualifikation der Betreffenden ausfällt. Die größte regionale Mobilität zeigen die Absolventen von Fachhoch- und Hochschulen sowie die Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen. Und während die Bundesanstalt für Arbeit ihre Aktivitäten ansonsten darauf konzentriert, schädlichen Wirkungen des Marktes entgegen zu wirken, verstärkt sie diese in den neuen Ländern, indem sie Abwanderung mit Mobilitätszulagen forciert.

Die Zukunftsperspektiven für den Osten sehen allerdings nicht nur wegen der Abwanderung überwiegend junger, qualifizierter Arbeitskräfte düster aus, sondern vor allem wegen der Folgen. Beschleunigte Abwanderung führt zur Überalterung, zur Verödung der Städte sowie zum Sinken der kauffähigen Nachfrage und zu erhöhter Erwerbslosigkeit. Eine viel zu selten öffentlich diskutierte Konsequenz ist auch der mit der Überalterung verbundene Erosionsprozess des Bildungssystems. Immer mehr Schulen müssen geschlossen oder zusammengelegt werden, die Wege zu weiterführenden Bildungseinrichtungen verlängern sich und wenn ständig mehr Lehrer zur Vermeidung von Entlassungen auf Teilzeit gesetzt werden, hat dies fatale Folgen für die Qualität des Unterrichts. Insofern ist es durchaus richtig, in den neuen Ländern die Qualifizierungsfrage auf die Tagesordnung zu setzen, aber nicht als Reaktion auf die Ursachen von Arbeitslosigkeit, sondern als Reaktion auf ein Ausbluten des ostdeutschen Arbeitsmarktes und sich dadurch verschlechternder Qualifizierungsstrukturen.

Arbeitsmarkt Ost: Weiterbildung, ABM und Strukturanpassungen

Feb 01

Jan 01

Dez 00

Feb 00

Feb 00

± absolut

± in %

Teilnehmer an beruflicher Weiterbildung

140.118

140.227

140.311

8.984

6,9

Beschäftigte in ABM

121.179

127.088

141.962

-8.626

-6,6

Beschäftigte in Strukturanpassungen

67.171

67.489

78.810

-53.445

-44,3

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden