Um den Protesten gegen Hartz IV ein wenig die Spitze zu nehmen, hat Franz Müntefering einen gesetzlichen Mindestlohn ins Gespräch gebracht. Zahlen nannte er nicht, aber die zu erwartenden Reaktionen kamen schnell. Union und Unternehmerverbände lehnen jede untere Lohngrenze ab, und die Gewerkschaften sind in dieser Frage seit langem gespalten. Die IG Metall und die IG BCE (Bergbau, Chemie und Energie) bleiben vorerst skeptisch, während die Dienstleistungsgewerkschaften, vor allem Verdi und NGG (Nahrung, Genuss, Gaststätten), sich für Mindestlöhne einsetzen. Innerhalb des DGB soll nun die Meinungsbildung forciert werden.
Gesetzliche Mindestlöhne gibt es in 19 von 29 OECD-Ländern, und in der alten EU waren es neun von 15 Ländern, in denen der Staat zumindest formal auf Mindesteinkommen achtete. Dass es dazu kam, liegt nicht zuletzt an der Europäischen Sozialcharta des Europarates von 1961 und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte von 1989. In beiden Dokumenten werden die Mitgliedsländer aufgefordert, auf "angemessene" beziehungsweise "gerechte" Löhne zu achten und über ihre Anstrengungen regelmäßig Bericht zu erstatten. Was angemessen ist, wurde nicht dem Gutdünken der Mitgliedsländer überlassen, sondern von einem Ausschuss unabhängiger Sachverständiger berechnet: 68 Prozent des nationalen Durchschnittslohnes, so lautete 1977 die Empfehlung, und Anfang 2004 wurde immerhin noch von 60 Prozent gesprochen. Als Armutslöhne gelten hingegen Einkommen, die jene 50 Prozent-Grenze unterschreiten, die von der EU offiziell als Armutsschwelle definiert wird.
Nun wird hierzulande gemeinhin angenommen, dass Deutschland als angebliches Hochlohnland mit vergleichsweise hoher Tarifbindung ohnehin keines Mindestlohnes bedarf, sondern eher Niedriglohnbereiche braucht, um den Arbeitsmarkt zumindest von gering Qualifizierten zu räumen. Die Statistiker von Eurostat und das Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut der Gewerkschaften (WSI) beweisen allerdings das Gegenteil. Bereits 1996, so eine Untersuchung von Eurostat, verdienten zehn Prozent aller deutschen Arbeitnehmer weniger als 50 Prozent des Durchschnittslohns. Das angebliche Hochlohnland hatte schon damals gemeinsam mit Italien den größten Billiglohnbereich in der EU. Das WSI ermittelte für 1997 unter den Vollzeitbeschäftigten in Westdeutschland einen Anteil von 12,1 Prozent Armutslöhnen (in Ostdeutschland 9,5 Prozent). Betroffen waren insgesamt knapp 2,5 Millionen Menschen. Und das lange vor Hartz. Verständlich, dass die Arbeitgeber beim Wort Mindestlohn nervös werden. Vor allem im Dienstleistungsbereich, aber auch in der Landwirtschaft und beim Handwerk müssten sie ihren Beschäftigten sehr viel mehr zahlen als heute, wenn es eine untere Grenze gäbe. Ebenso würde sich der Druck auf die industriellen Arbeitgeber erhöhen. Im Zuge der Hartz-Gesetze geschieht jedoch das Gegenteil. Der Sog nach unten wird stärker.
Was treibt nun ausgerechnet die IG Metall und die IG BCE ins Arbeitgeberlager? Einerseits vielleicht, dass sie die Interessen deutlich besser bezahlter Kernbelegschaften vertreten, aber andererseits wohl auch die Sorge um die Tarifautonomie und die Furcht vor Mitgliederschwund. Wenn ein wichtiger Teil der Arbeitsbeziehungen gesetzlich reguliert wird, so die Befürchtung, verliert der Tarifvertrag noch mehr an Bedeutung, und die niedrig bezahlten Beschäftigten - es geht immerhin um Millionen - könnten ihr Interesse an den Gewerkschaften verlieren. Dass Verdi und NGG das anders sehen, liegt eindeutig an ihren Organisationsbereichen, die immer stärker von tariffreien Zonen unterbrochen werden. Das Interesse der Arbeitgeber an der Tarifflucht ist hier am größten, und der Druck der Niedriglöhner zehrt schon lange an der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften. Selbst die öffentlichen Auftraggeber fördern den Unterbietungswettbewerb, indem sie Firmen akzeptieren, die den Bundesangestelltentarif weit unterschreiten.
Kann man diesen Zug ohne Mindestlohn aufhalten? Die Metall- und Chemiegewerkschafter sollten darüber ernsthaft nachdenken. Bei DaimlerChrysler in Sindelfingen hat sich die Kernbelegschaft zwar standhaft gegen eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich gewehrt, aber gleichzeitig akzeptiert, dass andere Beschäftigte, wie das Kantinenpersonal, aus dem Tarifvertrag abgeschoben werden. Kein gutes Beispiel für eine solidarische Tarifpolitik, aber ein deutlicher Hinweis auf die Grenzen der gegenwärtigen Tarifautonomie. Zwar sind in Westdeutschland noch 70 und im Osten 54,5 Prozent aller ArbeitnehmerInnen durch Tarifverträge geschützt. Was dabei allerdings häufig übersehen wird, ist nicht nur die mangelhafte Tariftreue, sondern auch die Höhe einzelner Entgelte. Nach Angaben der Bundesregierung gibt es rund 130 Tarifverträge, in denen Entgelte von weniger als sechs Euro Stundenlohn vereinbart wurden. Geht man von den neuen Zumutbarkeitskriterien aus, dann sind Arbeitslose demnächst gezwungen, in solchen Branchen für weniger als 4,20 Euro in der Stunde zu arbeiten. Ein Monatslohn von brutto rund 700 Euro ist demnach "angemessen".
Genau das scheint auch das Kalkül der Regierungspartein zu sein, wenn sie sich immer wieder einmal für gesetzliche Mindestlöhne aussprechen. Mit der EU-Norm von 60 Prozent des nationalen Durchschnittslohns dürfte das rotgrüne Trostpflaster jedenfalls nichts zu tun haben. Denn dann müsste der Mindestlohn in Deutschland bei einem Monatsbrutto von gut 1.500 Euro liegen. Aber selbst wenn sich die Bundesregierung nicht an der europäischen Vorgabe, sondern an der Praxis anderer Mitgliedsländer orientieren würde, wären 1.100 Euro das unterste Limit. In Frankreich gelten derzeit 1.126 Euro als Mindestlohn, in den Niederlanden 1.207, in Luxemburg sogar 1.290 und selbst in Großbritannien noch 1.124 Euro. Dass sich die Bundesregierung diesem Niveau freiwillig anschließt, ist nicht zu erwarten. Aber die Bewegung gegen Hartz IV könnte sich das Ziel setzen, mit einer EU-Norm im Rücken den "Reformen" den Zahn zu ziehen. Würden Mindestlöhne jeweils automatisch mit den Tariferhöhungen steigen und hätten die Gewerkschaften zusätzlich ein Verbandsklagerecht, um ihre Einhaltung kontrollieren zu können, dann läge ein Mindestlohn-Gesetz auch im Interesse der bisher skeptischen Gewerkschaften.
Harald Werner ist gewerkschaftspolitischer Sprecher der PDS.
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