WIR ist ein Anderes

Dokumentarcomic In der (selbst-)reflexiven Verlangsamung politischer Konfliktdynamiken liegt die Stärke des dokumentarischen Comic, wie Sarah Gliddens »Im Schatten des Krieges« beweist

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Auf den ersten Blick scheint der Comic ein denkbar ungeeignetes mediales Format für solch ein an der Wahrhaftigkeit orientiertes Genre wie das der Dokumentation abzugeben. Anders als etwa die Fernsehreportage oder das Radiofeature ist der Reportagecomic offensichtlich und eindeutig als etwas Gemachtes und Künstliches erkennbar. Es fragt sich, ob das, was der recherchierende Journalist vor Ort und unmittelbar mit Augen, Ohren und technischem Equipment wahr- bzw. aufgenommen hat, noch annähernd dem entspricht, was die Leser mittels Zeichnung und Schrift später serviert bekommen. Dabei ist doch Authentizität so etwas wie die heilige Kuh des dokumentarischen Journalismus.

Eine weitere Problematik betrifft die zeitliche Differenz zwischen der Recherche einerseits und dem Zeitpunkt der Veröffentlichung sowie der Rezeption des Comic andererseits. Das Dazwischen – also der Prozess der (materiellen) Produktion – umfasst im Vergleich zu anderen Medienformen sehr häufig einen denkbar großen Zeitraum. So basiert denn auch der kürzlich im Reproduktverlag erschienene Comicband »Im Schatten des Krieges« der amerikanischen Künstlerin und Autorin Sarah Glidden auf Recherchen in der Türkei, dem Irak und Syrien, die zum Veröffentlichungstermin bereits mehr als sechs Jahre zurückliegen. Sie begleitete 2010 zwei befreundete JournalistInnen des »Seattle Globalist«, die wiederum selbst an mehreren Reportagen über die Auswirkungen des zweiten Irakkrieges arbeiteten. Gliddens eigenes Projekt war dabei eine Art comicaler Meta-Reportage, die die Arbeit der Freunde beobachten und reflektieren sollte.

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(Sarah Glidden *1980; Karikaturistin und Comicjournalistin)

So weit der Plan. Und tatsächlich finden sich auf ihrer zweimonatigen Reise zahlreiche interessante Gesprächspartner aus allen beteiligten Konfliktparteien, um sowohl die Lage der vom Krieg schwer gebeutelten Menschen begreiflich zu machen als auch die Rolle der Medien hinsichtlich ›unseres‹ Bildes vom Nahen Osten kritisch zu beleuchten. Allerdings ändert sich die politische Situation bereits nach einem Jahr ihrer Recherchereise dramatisch. Im Kontext des »Arabischen Frühlings« gleitet Syrien ab 2011 in einen Bürgerkrieg ab. All das was vor Ort gesehen, gehört und aufgezeichnet wurde, stand nun im Schatten eines neuen, anderen Krieges. Glidden gestand in einem Interview die Selbstzweifel, die sie aufgrund der veränderten Situation überfielen: »Was für einen Sinn macht es, an diesem Comic zu arbeiten, während da draußen so schrecklich viele Dinge geschehen.?«

Allerdings gibt es bekanntlich auch nichts, was mit nichts zusammenhinge. Und der Konnex zwischen Irakkrieg und dem syrischen Bürgerkrieg ist wohl nur den wenigsten nicht geläufig. So gerät denn auch der Subplot über den ehemaligen Marine und Irakveteran Dan, der die JournalistInnen in den Nahen Osten begleitet, mehr und mehr zur eigentlichen Geschichte des Comic und macht letztlich dessen Faszination aus. Dans schwankende und äußerst ambivalente Haltung zur Frage der Richtigkeit der militärischen Intervention der USA im Irak 2003 sorgt für einiges Konfliktpotential innerhalb der Reisegruppe. Wollte die Reportage ursprünglich den Fokus auf das Verhältnis der eigenen, d.h. westlichen Generation der Mitt- bzw. Endzwanziger zu den Altersgenossen im Irak und in Syrien lenken, wird ziemlich schnell deutlich, dass schon die dem vorausgehende Bestimmung des Eigenen alles andere als Einigkeit produziert.

Auf dieser instabilen Grundlage des kollektiven Selbstverständnisses werden die Begegnungen mit den Anderen – Exiliraner in der Türkei, Kurden im Nordirak, nach Syrien geflohenen sunnitische Iraker – auch und insbesondere zu Selbsterfahrungen im Spiegel derselben. So sehr sich die vier jungen Menschen auch darum bemühen, Einblicke in das Leben der Menschen im Nahen Osten zu erhalten und diese ihren eigenen Landsleuten weiterzureichen: Es ist eine andere Frage, die ins Zentrum der Erzählung drängt; aus einem »Wer seid ihr?«wird zusehends »Wer sind wir für euch?«

Antworten erhalten sie hierauf nun reichlich, und es sind je nach Region und Gesprächspartner ganz unterschiedliche. Die Begegnungen mit Einheimischen in der Autonomen Region Kurdistans verlaufen insbesondere für den Ex-Marine Dan äußerst zufriedenstellend, so dass dieser nach einer herzlichen Begrüßung und Lobpreisung Amerikas durch einen kurdischen Kioskbesitzer jubiliert: »Ich hätte eine amerikanische Flagge mitbringen und sie mir umhängen sollen...«. Doch anders als die Kurden, die unter der Herrschaft der irakischen Baath-Partei stark gelitten haben und von der amerikanischen Intervention 2003 zweifellos profitierten, sind die meisten sunnitischen Iraker – die privilegierte Bevölkerungsgruppe unter Saddam Hussein – gar nicht gut auf die Vereinigten Staaten zu sprechen. Die zuweilen feindlichen Reaktionen der irakischen Flüchtlinge in Syrien erschüttern selbst Dan. Er hat die Fahne glücklicherweise zu Hause gelassen. Dennoch bleibt er in einem eigenartig ambivalenten Urteil über Sinn und Unsinn der Irakintervention verstrickt, als scheue er sich, den Stab über sich zu brechen (bzw. brechen zu lassen). Der Comic enthält viele weitere solcher Spiegelungen, von ausreisewilligen Iranern bis hin zu ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern, die selbst aus den USA stammen und das wohl vernichtendste Urteil über die amerikanische Außenpolitik fällen. Wir, das ist für diese Gruppe junger US-Amerikaner jeweils als ein Anderes.

Wenn nun nicht das Leben der Anderen, sondern das eigene Verstricktsein darin den eigentlichen Plot in »Im Schatten des Krieges« ausmacht, so könnte man sich fragen, ob dies nicht ein Distinktionsmerkmal des Comicjournalismus schlechthin sein könnte. Insofern wäre die Aktualität comicaler Berichterstattung nur noch von untergeordneter Bedeutung. Und das Ringen um Authentizität wäre sogar gleich zum Scheitern verurteilt, ohne dass es sinnlos wäre. Denn der Medientheoretiker Scott McCloud hat bereits vor mehr als zwanzig Jahren darauf hingewiesen, dass die medialen Besonderheiten des Comic – die cartoonhafte Gestaltung der Figuren und die Zeit- und Raumsprünge zwischen den einzelnen Bildern – auf ein projektives Lesen der modernen Bildgeschichte hinausläuft: Das Bild, die Sequenz, die Seite spiegeln das Unbewusste des Lesers, der die Lücken im Comic mit seinen eigenen Wünschen und Ängsten füllt, ohne sich dessen je bewusst zu sein. Das ist der Trick, durch den Geschichten mit sprechenden Mäusen und Enten oder Superhelden in hautengen Latexkostümen überhaupt erst funktionieren können.

Und so wie das Lesen von Comics etwas höchst Subjektives ist, gilt dies auch für das Machen von Comicreportagen. Wie schon Joe Sacco, der Altmeister des Dokumentarcomic, ist Sarah Glidden nicht einfach Beobachterin, sondern auch und insbesondere Teilnehmerin ihrer eigenen Dokumentation und als solche für den Leser zu erkennen. Deshalb verzichtet sie auf solch selbstvergewissernde, pseudoobjektive Fragestellungen, die politischen Konfliktdynamiken sowieso nie gerecht werden können (»Wer hat angefangen und warum?«) und kennzeichnet ihre Comicreportage als eine (visuelle) Erzählung. Diese ist und bleibt – bei aller Augenzeugenschaft und Faktentreue – eine perspektivische Konstruktion einer Erzählerin.

Sarah Glidden: Im Schatten des Krieges. Reportagen aus Syrien, dem Irak und der Türkei, Berlin (Reprodukt) 2016. Aus dem Engl. von Ulrich Pröfrock, 304 Seiten, farbig, Klappenbroschur. ISBN 978-3-95640-101-5. EUR 29,00

Leseprobe (engl.): http://sarahglidden.com/read-the-first-five-pages-of-rolling-blackouts/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

M. Zehe

Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung; Vorsitzender der Wolgast-Jury (GEW) zur Darstellung der Arbeitswelt in Kinder- und Jugendmedien

M. Zehe

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