Zeit ohne Ende

Graphic Novel Guy Delisles grafischer Roman "Geisel" über die Entführung des Ärzte-ohne-Grenzen-Mitarbeiters Christophe André

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Das Œuvre des frankokanadischen Comiczeichners Guy Delisle ließ sich bislang säuberlich in drei Teile auftrennen: Zum einen wären da die seit 2000 entstandenen Comicreportagen aus dem nahen und fernen Osten, die Delisle internationalen Erfolg und einige Bekanntheit auch außerhalb der Comicwelt einbrachte. Desweiteren sind da noch die Miniserien Inspektor Moroni und Louis, die sich am ehesten dem Genre der Funnies zuordnen lassen. Und zuletzt machte er mit einer Reihe von comicalen Erziehungsratgebern auf sich aufmerksam, die aber keinesfalls als pädagogische Handlungsrezepte verstanden werden sollten, sondern als brüllend komische Reflexionen über die unvermeidlichen Unzulänglichkeiten des Eltern- bzw. Vaterdaseins daherkommen.

Seine neueste Graphic Novel Geisel unterscheidet sich von den bisherigen Veröffentlichungen des Autors und Zeichners vor allem durch die rigorose Ernsthaftigkeit des gewählten Themas als auch seiner Darbietungsweise. Erzählt wird die Geschichte Christophe Andrés, eines Mitarbeiters der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, der 1997 aus Inguschetien nach Tschetschenien entführt wurde; wobei in der Erzählung nicht ganz klar wird, ob es sich bei seinen Kidnappern um tschetschenische Rebellen oder einfach nur um Kriminelle gehandelt hat. André verbrachte jedenfalls beinahe vier Monate in deren Gewalt und schaute – mal mit stoischer Gefasstheit, mal von Verzweiflung gepackt – dem schlimmstmöglichen Ausgang seines persönlichen Dramas entgegen. Dass es zumindest dazu nicht kommen sollte, verdankt sich der Protagonist ausschließlich selbst, oder genauer: seiner Fähigkeit, im entscheidenden Moment ein kaum kalkulierbares Risiko zu wagen. Aber mehr soll hier zum Ausgang des Plots nicht verraten werden.

Delisle gelingt es, die Schilderung der Entführungsgeschichte in solche Bilder und Arrangements zu übersetzen, die uns nicht nur eine konkrete Sicht auf die Ereignisse jener Zeit eröffnen, sondern auch und insbesondere in der Lage sind, das traumatische Moment jener Geiselnahme aufzuzeigen. Dabei geht es unter anderem um das Gefühl des völligen Ausgeliefertseins an die Peiniger und die Unsicherheit, ob und wie ein solches Ereignis überhaupt zu überstehen sei. Es ist sicher nicht verwunderlich, dass André in besonders bedrohlich oder schlicht unverständlich scheinenden Situationen von imaginierten Bildern seiner eigenen Exekution heimgesucht wird. Doch es ist bemerkenswerterweise nicht die Angst vor dem ungewissen Ausgang, sondern – meiner Meinung nach – die still gestellte Zeit, die als die eigentliche traumatische Erfahrung der Geisel von Delisle hervorgehoben wird: Christophe André verbrachte die Tage und Nächte seiner Entführung an einen Heizkörper gefesselt in einem abgedunkelten Raum, beinahe ohne jeden Kontakt zur Außenwelt. Jeder hat sicher einmal die unangenehme Erfahrung eines Tages gemacht, der wegen seiner schieren Ereignislosigkeit nicht vergehen will, die Sekunden gerinnen zu Minuten, die Minuten zu Stunden. Im Falle Andrés ist das Verdammtsein zum Nichtstun nicht einfach nur unangenehm, sondern unerträglich. Das ungeduldige Warten auf eine Entwicklung in der eigenen Sache, auf ein Ende des persönlichen Ausnahmezustands ist dadurch sicher nicht leichter zu ertragen, wenn die Zeit förmlich still zu stehen scheint.

Delisle bedient sich hier vor allem eines besonders niedrig rhythmisierten Erzähltempos und einer verhältnismäßig großen Redundanz von Bildelementen in der Sequenz, um die erzählte Zeit bis ins gefühlt Unendliche zu dehnen. Doch die Rede von gefühlter ›Unendlichkeit‹ oder gar ›Zeitlosigkeit‹ täuscht, weil die traumatische Erfahrung Andrés in seiner völligen Isolation ja nicht von einem Fehlen der Zeit herrührt, sondern von ihrer massiven und unerträglichen Präsenz. Eine Zukunft, die nicht nur völlig ungewiss ist, sondern einfach nicht kommen will, ist schließlich der beste Ausgangspunkt, um den Verstand zu verlieren. Der Comickünstler führt uns so meisterhaft den Kampf einer Geisel um seine letzte verbliebene Würde vor Augen, als einen Versuch, das Abgleiten ins Psychotische zu verhindern und zumindest die mentale Kontrolle über die eigene Situation zu bewahren. Das stupide Zählen der Tage gehört hier ebenso dazu wie der schwarze Humor, mit dem André sich selbst gegenüber die grausame Absurdität der eigenen Lage auf den Punkt bringt. Dies geschieht, wenn Delisle ihn z.B. Gespräche zwischen seinen Entführern und deren Nachbarn imaginieren lässt: »Kannst du heut mal unserer Geisel das Essen bringen? Wir haben grad was anderes zu erledigen.« / »Was soll ich ihm denn geben?« / »Von uns kriegt er immer ein bisschen Brühe und Brot.« / »Alles klar, wird gemacht.« / »Vielen Dank. Also tschüss!« Christophe André hat diesen Psychokrieg letztlich für sich entschieden, ob auch unbeschadet sei hier dahingestellt; für die Darstellung seiner Erinnerungen an diese Zeit hat Guy Delisle jedenfalls mit Geisel eine mehr als angemessene und sehr ansprechende Form gefunden.

Guy Delisle: Geisel, Reprodukt, Berlin 2017. 432 Seiten, Pantone, 16,5 x 24,5 cm, Klappenbroschur. Aus dem Französischen von Heike Drescher. ISBN 978-3-95640-117-6, 29€.

Leseprobe des Verlags: http://www.reprodukt.com/produkt/graphicnovels/geisel/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

M. Zehe

Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung; Vorsitzender der Wolgast-Jury (GEW) zur Darstellung der Arbeitswelt in Kinder- und Jugendmedien

M. Zehe

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