Tim Burgess: 5 Leute auf der Bühne, 40 davor

Im Konzert Selten ergibt sich die Chance, einen Star des Britpop in der intimen Atmosphäre eines leeren Clubs zu bestaunen. Tim Burgess und das deutsche Publikum machten es möglich

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Tim Burgess: 5 Leute auf der Bühne, 40 davor

Foto: Tim Whitby/Getty Images

Die Charlatans sind eine dieser Bands, die in Großbritannien als nationale Helden verehrt werden und große Hallen füllen, während sie es in Deutschland nicht ansatzweise zu einem vergleichbaren Status gebracht haben. Zu unterschiedlich sind die popkulturellen Szenen, zu verschiedenen die jeweiligen Traditionen und davon beeinflussten Geschmäcker der Hörer. Während Britpopbands aus der ersten Reihe wie Oasis oder Blur auch hierzulande den Durchbruch hinbekamen, ist man als in Deutschland lebender Fan in der interessanten Position, Gruppen wie Embrace, The Doves oder eben The Charlatans vor wenigen hundert Zuschauern spielen zu sehen. Wenn sich denn die seltene Gelegenheit ergibt, sie auf Deutschlandtournee anzutreffen. Die Charlatans gastierten zuletzt 1995 und 2008 in Berlin, doch immerhin verirrte sich deren Sänger im Rahmen seiner Tournee zum zweiten Soloalbum „Oh No I Love You“ dieser Tage in die Stadt.

Um den Kontext zu präzisieren: Die Charlatans dürfen zweifellos als eine der besten und prägendsten britischen Bands der vergangenen 25 Jahre gelten, darüber hinaus glänzen sie durch Beständigkeit und sind vielleicht nicht nur deshalb zu so etwas wie den Rolling Stones der jüngeren britischen Popmusik geworden ist. Und das sollte hier, angesichts des Zustandes der Rolling Stones in den letzten Jahrzehnten, ausnahmsweise als Kompliment aufgefasst werden.

Ihr Beginn datiert in die Zeit des Manchester Rave, aus dieser stammt auch einer ihrer bekanntesten Songs „The Only One I Know“, der einzige, welcher es hierzulande dann und wann in die Playlisten der DJs gebracht hat. Anders als viele Kollegen aus dieser Generation – es sei an die Stone Roses erinnert – konnten sie kontinuierlich ihre Karriere fortsetzen. Sie fanden sich ein in den Britpop, überlebten auch diesen Trend, verkrafteten den Unfalltod ihres ersten Keyboaders und wussten sich künstlerisch stets behutsam weiterzuentwickeln. Derzeit hat die Band mit der wiedergekehrten Krebserkrankung ihres Schlagzeugers zu kämpfen. Mit einer Rhythmusgruppe, die vom alten Soul geprägt ist und einer exzellenten Melodiefraktion aus Keyboard, Gitarre und Gesang brachten sie es zu teils eher eigenen, teils eher traditionellen Sounds und Grooves, die stets ab den ersten Klängen bei der eingeschworenen Fangemeinde eine euphorisierte körperliche Reaktion hervorrufen. Doch dazu später mehr. Dass ich selbst zu diesen Fans zähle, muss ich sicher nicht mehr gesondert betonen.

Sein aktuelles Soloalbum nahm Tim Burgess mit Kurt Wagner, dem Mastermind von Lambchop, in Nashville auf. Die Texte stammen von Wagner, die Musik von Burgess, heraus kam eine höchste interessante Mischung aus Country und Northern Soul, die jedoch in Deutschland auf noch weniger Interesse gestoßen zu sein scheint, als es seiner Band zuteil wurde. Ursprünglich im Heimathafen Neukölln angesetzt, wurde das Konzert kurzfristig in den um ein Vielfaches kleineren Privatclub verlegt. Die Ticketpreise waren mit 30 Euro an der Abendkasse auf groteske Weise überzogen, was sicherlich auch einen Grund dafür darstellte, dass man schließlich zusammen mit ca. 40 weiteren Hörern der undankbaren Aufgabe nachkommen musste, den Club einigermaßen gefüllt aussehen zu lassen. Wäre es nicht für alle der bessere Deal gewesen, man hätte Tim Burgess auf Schnuppertour zu geringen Preisen durchs Land geschickt? Aber man steckt ja nicht drinnen und vielleicht ist man immer hinterher schlauer.

Als Vorband waren Hatcham Social mit auf Tour, die pünktlich zu viert die Bühne enterten und auf angenehme Weise an die englische Gitarrenmusik der 80er Jahre erinnerten. Ziemlich unaufgeregt spielten sie mit einem Sound auf, der in der Frühzeit des Creation-Labels angesiedelt werden kann: Meist längere Songs irgendwo zwischen den Noisewänden des klassischen Shoegaze und filigraneren Anleihen bei den Smiths oder Orange Juice. Das Streben nach der Attitüde scheint nicht besonders weit oben auf ihrer Agenda zu stehen, was sie auf sympathische Weise in den Kontext des gering besuchten Privatclubs einfügte. Der Schlagzeuger addierte einen hübschen Satzgesang, der Bassist ging ein wenig in Richtung schlichter Dandy und wusste schöne Grooves zu spielen. Der Sänger schien etwas Probleme mit der Frisur zu haben, ansonsten aber mit gar nichts und konnte gerade deshalb überzeugen. Der Gitarrist hatte sich offenbar vorgenommen, eine coole James Dean Ausgabe an der Gitarre abzugeben. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, musste man jedoch die Photographien von James Dean gesehen haben, welche er an seine Gitarrenverstärker geklebt hatte. Dem geneigten Kenner der deutschen Serienlandschaft wird sich eher die Assoziation aufgedrängt haben, hier den um kein einziges Jahr gealterten Sohn aus der Serie „Familie Heinz Becker“ vor sich zu sehen.

Nach ihrem feinen Set wurden Hatcham Social verabschiedet, es gab ein paar Umbauten und dann stand plötzlich Tim Burgess auf der Bühne, begleitet von Mark Collins, dem Gitarristen der Charlatans. Vielleicht muss man sagen: Auch Tim Burgess hat dieser Tage ein Problem mit der Frisur. Paul Weller hatte einst über ihn gesagt: „He knows about the importance of haircuts“, und ja, das trifft wohl zu. Dennoch muss man kein Freund seines in den letzten Jahren bevorzugten blondierten Topfschnittes sein. Aber auch daran kann man sich gewöhnen. Jedenfalls ging ein kleines Hallo durchs Publikum und Mark und Tim spielten drei akustische Songs, darunter eine Version von „The Only One I Know“, welcher in der reduzierten Variante unerwartet zu ergreifen wusste. Anschließend kamen der Schlagzeuger und der Gitarrist von Hatcham Social wieder auf die Bühne, deren Sänger schließlich komplettierte die Band am Bass. Sie spielten ein schlichtes aber beseeltes Set, wirkten auf eine ansprechende Weise überhaupt nicht durchchoreographiert und kommunizierten angeregt auf der Bühne, wie eine kleine Band es auf einer kleinen Tournee eben so tut. Zu keinem Zeitpunkt hatte man das Gefühl, dass sie angesichts der geringen Zuschauerzahl enttäuscht daherkamen. Vielmehr befolgten sie eine der goldenen Regeln des Liveauftrittes: Man sollte in keinem Fall die wenigen Zuschauer, die gekommen sind, dafür bestrafen, dass die anderen es vorgezogen haben, zu Hause zu bleiben. Das Programm nun bestand mehrheitlich aus Songs des aktuellen Soloalbums von Tim Burgess, was man meist schon daran erkennen konnte, dass er die Texte vom Blatt ablas. Die Band blieb meist eher zurückhaltend in der Dynamik, der Gitarrist von Hatcham Social spielte wesentlich variabler als in seiner eigenen Band, was positiv auffiel, die Satzgesänge von Schlagzeuger und Bassist komplettierten den irgendwo zwischen Country, Soul und zurückgenommenem Indie angesiedelten Sound. Dann und wann wurden Stücke der Charlatans eingestreut, was sehr wohlwollende Reaktionen beim Publikum nach sich zog. Tim Burgess brauchte seine Textblätter nicht mehr und wechselte in eine leicht gebeugte Haltung, die man von Konzerten der Charlatans her kennt. Welch anderes Körpergefühl in den Songs der Charlatans steckt – im Gegensatz zu den an den Country angelehnte Solostücken – konnte man allerdings nicht nur an der Haltung von Tim Burgess feststellen, sondern auch an einem selbst. Die ersten Töne vom „Impossible“ waren gespielt und sogleich fuhr der Sound ins Herz und in die Beine. Es wurde hier eindrücklich vorgeführt, welch unnachahmlichen Groove die Charlatans entwickelt haben. Der Wechsel der Drums innerhalb des Songs zwischen Backbeat und Downbeat erzeugt einen starken Effekt, hinzu kommen der pulsierende Bass und die Gitarren, welche eine weitere Rhythmusschicht addieren, und fertig ist der Charlatans Sound. Wir hätten gerne mehr davon gehabt, doch das wäre ungerecht gegenüber dieser feinen Liveband gewesen, die sich schlicht und einfach einem anderen Konzept verschrieben hat. Das reguläre Konzertende schließlich verschob sich, weil Tim Burgess der bereits im Abgang befindlichen Band bedeutete, noch einige weitere Songs spielen zu wollen. Das Publikum dankte es mit Applaus, aber irgendwann war dennoch Schluss.

Wer anschließend noch einige Zeit im Club verblieb, der konnte Tim Burgess am Merchandise in ausführliche Gespräche verwickelt sehen oder selbst dazu beitragen. Er wirkte in keinster Weise frustriert, was vielleicht zu erwarten gewesen wäre, da er sicher mit wesentlich mehr Publikumsresonanz gerechnet hatte. Gut gelaunt und geduldig sprach er mit den Anwesenden und wirkte dabei wie jemand, der einfach Freunde an der Musik hat und dankbar ist, dieses Konzert hat spielen zu können. Soviel buddhistischer Gleichmut ist möglicherweise nur von jemandem zu erwarten, der eine selbstzerstörerische Drogenkarriere hinter sich hat. Hoffen wir, dass auch andere Wege dorthin führen.

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