Als Yoko Ono im vergangenen Sommer Lesern der britischen Zeitung The Guardian Rede und Antwort stand, wurde sie gefragt, was eigentlich aus Fluxus geworden sei – jener Kunstströmung, die in den sechziger Jahren die Grenzen zwischen den verschiedenen Kunstdisziplinen aufbrach und der auch Yoko Ono zugerechnet wird. „Fluxus is still going!“, erwiderte sie schlicht. Aber hat die Aktions- und Performance-Kunst, wie sie in den Sechzigern entstand, uns heute wirklich noch etwas zu sagen?
Ein Musikstück konnte bei Fluxus aus einer Vase Blumen bestehen, die auf einem Klavier stand. Dieser radikale Umgang mit vormals streng getrennten Kunstformen und die Grenzüberschreitung zur Nicht-Kunst waren damals neu, neben Fluxus praktizierten ihn bald auch andere Bewegungen wie die Wiener Aktionisten, die das Bürgertum mit Tabubrüchen schockierten. Das Besondere an Fluxus aber war, dass das Publikum unabdingbar Teil der Performance war. Die Kunst passierte in den Köpfen. Dazu reichten schon ein Blatt Papier und eine knappe Anweisung:
„Um Ihre Gäste zu unterhalten, zeigen Sie ihnen die Wäsche, die an diesem Tag angefallen ist und erklären Sie ihnen jedes Stück. Wie es schmutzig geworden ist, warum etc.“ (Laundry Piece, Yoko Ono, 1963)
1964 veröffentlichte Yoko Ono in Tokio das Buch Grapefruit – eine Sammlung an Instruktionen, mit denen der Leser selbst Performances durchführen sollte. Auch die Bilder, die Yoko Ono zu jener Zeit anfertigte, luden zur Interaktion ein. Ihr Painting to be stepped on, das aus einem Stück Stoff auf dem Boden bestand, erläuterte sie so: „Im 15. Jahrundert wurde ein Stepping Painting“ in Japan verwendet, um Christen von Nicht-Christen zu unterscheiden. Man wurde aufgefordert, auf ein Porträt von Jesus zu treten. Wer das nicht konnte, wurde auf der Stelle fortgeschafft und gekreuzigt.“
Die Natur des „Events“
Nach einem berühmten Wort von Peter Bürger galt es, die Kunst „in Lebenspraxis zurückzuführen“. Für Fluxus bedeutete das: Sie konnte jederzeit an jedem Ort stattfinden. Der Künstler George Brecht etwa schickte 1961 Umschläge mit kleinen Kärtchen an Freunde und Bekannte. Auf einigen waren Partituren abgebildet, wie sie bei Fluxus-Konzerten häufig zum Einsatz kamen. Dazu eine Karte mit dem Aufdruck: EXHIBIT 7 (CLOCK); house number. Der Empfänger konnte sich nun vorstellen, wie es wäre, an dieser fiktiven Veranstaltung teilzunehmen.
Brechts „Event“ ist eines der frühesten Beispiele für konzeptionelle Kunst. Wenn wir heute auf Facebook eine Einladung bekommen, ist der Effekt ein ähnlicher: Selbst wenn wir unsere Teilnahme bestätigen, stellen wir uns meist nur vor, wie es wäre, hinzugehen. Was damals radikal war, ist heute allerdings ein Ritual der Eventkultur.
Mit Yoko Onos Zustimmung wurde 2003 für ein Fluxus-Festival erneut ein Painting to be stepped on angefertigt. Die Besucher waren verunsichert: War der Titel wörtlich zu nehmen, oder handelte es sich um ein Museumsstück, das man nur betrachten sollte? Erst als in der Zeitung ein Foto mit den Schuhen eines Besuchers auf dem Gemälde erschien, wurde es aktiv genutzt.
Nun ist die Unsicherheit im Umgang mit den Werken zwar von dieser Kunst gewollt, der Fall des Paintings to be stepped on verweist aber auf ein grundsätzliches Problem: Eine Bewegung wie Fluxus kann sich nicht etablieren, ohne dass sie mit dem ursprünglichen Geist bricht.
Das musste auch Wies Smals erkennen, als sie 1975 in Amsterdam die erste Galerie für Performancekunst eröffnete: De Appel. Hier wurden in einem frühen Stadium Künstler wie Laurie Anderson, Barbara Kruger und Marina Abramović gezeigt. Eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Die Performances gestalteten sich jedoch ziemlich traditionell vor einem passiven Publikum, das allenfalls ein bisschen mitmachen wollte.
Die Galeristin als Geisel
Nur in Ausnahmefällen widersetzte sich ein Künstler dieser ungeschriebenen Absprache zwischen Performern und Zuschauern. Einmal wurden alle Anwesenden gebeten, ihre Autoschlüssel abzugeben – woraufhin der Künstler die Galerie verließ und nicht zurückkehrte. Noch radikaler war die Aktion des deutschen Künstlers Mike Hentz, der mit seiner Gruppe eine musikalische Performance ankündigte. Während der Vorbereitungen nahmen sie Wies Smals und einige Mitarbeiter als Geiseln. Die ahnungslosen Besucher wurden einer nach dem anderen in die Performance-Räume eingelassen, dann gezwungen, sich auszuziehen, und in einen Käfig eingeschlossen, der unter Strom stand. Vorher und danach wurden sie fotografiert. Durch die Musik abgelenkt, bekam das Publikum vor den Räumen nicht mit, was sich drinnen abspielte. Schließlich gelang es einem Besucher, einen Kurzschluss zu verursachen, was allen die Flucht ermöglichte. Es sollte das einzige Mal in der Geschichte von De Appel bleiben, dass das Publikum die Regie übernahm. Bei Wies Smals stellte sich das Gefühl ein, dass ihre Galerie lediglich eine kleine Gruppe von Insidern mit unverbindlichem Entertainment versorgte. Anfang der Achtziger kündigte sie deshalb einen Kurswechsel an: De Appel verlegte sich ganz auf „Außenprojekte“ – Performances an öffentlichen Orten.
Und heute? Die Performancekunst ist längst auch im Museum angekommen. 2001 gewann der britische Künstler Martin Creed den renommierten Turner-Preis für WORK NO. 227 – einen leeren Raum, in dem das Licht alle fünf Sekunden an und aus ging. Und egal ob materiell oder immateriell: Performancekunst hat einen Marktwert. Fotografien, Filmaufnahmen, die Entwürfe des Künstlers, Zertifikate oder auch Requisiten von Aufführungen werden verkauft. Doch es gibt Künstler, die das nicht länger wollen.
Tino Sehgal etwa erschafft „Situationen“. So kann es passieren, dass man als Museumsbesucher plötzlich angesprochen wird. Von einem Kind, das eine Frage stellt, oder einem Studenten, der eine Diskussion beginnt. Das alles erscheint wenig spektakulär. Die Werke von Sehgal bestehen aus der Erfahrung und den Erinnerungen jener, die dabei gewesen sind. Fotografieren ist nicht gestattet, Amateurfilme auf Youtube werden nicht geduldet. Diese Form der Performance-Kunst, oder vielleicht sollten wir besser sagen: Erfahrungskunst, schließt direkt an die Events von George Brecht und die Mind Pieces von Yoko Ono aus den sechziger Jahren an: Bildende Kunst, die sich im Kopf des Besuchers abspielt. Die Kraft, die von solchen Arbeiten damals wie heute ausgehen kann, hat Yoko Ono 1964 in starke Worte gefasst:
Put one memory into one half of your head.
Shut it off and forget it.
Let the other half of the brain long for it.
Harry Ruhé betreibt seit 1976 in Amsterdam die Galerie A für Fluxus- und Performancekunst
Die Frankfurter Kunsthalle Schirn zeigt anlässlich des 80. Geburtstages von Yoko Ono vom 15. Februar bis 12. Mai die Retrospektive Half-A-Wind Show, die auch ihren Einfluss auf die Fluxus-Bewegung würdigt
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